Kinderkurheim Nickersberg Dr. Bartsch

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Eine Dokumentation von Dr. phil. Anton Ottmann, Dielheim

Publikation auf PhenixXenia mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Vorgeschichte

Als ich vor einiger Zeit im Internet einen Bericht über Verschickungskinder las, erinnerte ich mich an meine eigenen Erlebnisse im Kinderkurheim Nickersberg im Schwarzwald in der Nähe der Kleinstadt Bühl. Nach einer Tuberkulose-Erkrankung hatte ich dort Mitte der 50-er Jahre im Alter von zehn oder elf Jahren vier Wochen zur „Erholung“ zugebracht.

Ursprünglich wollte ich über die damaligen Zustände einen Bericht schreiben und suchte dazu über die örtliche Redaktion der Badischen-Neuesten-Nachrichten (BNN) Zeitzeugen. Es meldeten sich 11 ehemalige „Verschickungskinder“, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht hatten. Ergänzend suchte ich Informationen über das Heim und das Leiterehepaar Elisabeth und Dr. Paul Bartsch, was zu Beginn wenig ergiebig schien. Im Stadtarchiv Bühl fand sich lediglich eine Abmeldeliste des Ehepaars Bartsch aus dem Kinderkurheim im Schwarzwaldort Sasbachwalden bei Achern. Sie war gleichzeitig die Anmeldung in die Gemeinde Altschweier (heute Ortsteil von Bühl) zur Übernahme des Kinderkurheims „Nickersberg“.

Nachdem ich herausfand, dass in Sasbachwalden ein Erholungsheim für hochrangige SS-Angehörige war und Himmler dort noch kurz vor Kriegsende vor Armee-Kommandeuren eine Rede gehalten hatte, kam ein erster Verdacht auf, dass es sich bei Paul Bartsch um eine Person mit Nazi-Vergangenheit handeln könnte. Denn, woher sollte er als Berliner den Ort kennen? In dem für Sasbachwalden zuständen Archiv des Ortenaukreises fanden sich dann zahlreiche Schriftstücke über das Ehepaar Bartsch, aus denen hervorging, dass Paul Bartsch gar kein Arzt war, wie alle mir bekannten ehemaligen „Verschickungskinder“ selbstverständlich angenommen hatten. Er gab sich stattdessen als „praktischer Psychologe“ aus, was keine übliche Berufsbezeichnung darstellt. Außerdem waren einige Schreiben der Berliner Jugendbehörde an einen Otto Bartsch adressiert, genauso wie die Selbstauskunft bei der Staatsanwaltschaft Berlin, ob ein Strafverfahren gegen ihn vorliege. Da „Otto“ in der in Berlin angeforderten Geburtsurkunde nicht als Zweitname eingetragen war, entstand kurzzeitig der Verdacht, dass es sich bei Otto und Paul um zwei verschiedene Personen handeln könnte.

In den Akten fand ich Hochzeitsdatum und –ort, sodass eine Heiratsurkunde angefordert werden konnte[1], auf der Bartsch als „Stabsintendant, Doktor der Philosophie“ eingetragen war. Unter Religion war „gottgläubig“ vermerkt, die im 3. Reich übliche Bezeichnung für einen aus einer Religionsgemeinschaft ausgetretenen Nationalsozialisten. Diese Informationen brachten zuerst einmal mehr Verwirrung als Aufklärung. Doch nun war mein Ehrgeiz geweckt. Mit über 30 Anfragen an Bundes-, Landes-, Stadt-, Kirchen- und Universitätsarchiven sammelte ich Informationen zu dessen Berufsausbildung und den Militär- und Studienzeiten. Heute steht zweifelsfrei fest, dass er sich nach dem Krieg eine falsche Identität aufgebaut hatte und dass es sich bei Otto Bartsch mit Sicherheit nicht um einen Doppelgänger handelte. Wie im vierten Teil der Dokumentation dargestellt, konnte ich am Ende sein Leben von der Geburt im Jahr 1892 bis zum Tod im Jahr 1977 fast vollständig rekonstruieren. Dabei kam unter anderem heraus, dass er von Beruf weder Mediziner, noch Psychologe und auch nicht Heimleiter war, sondern Diplomhandelsschullehrer.

Verschickungskinder im Kinderkurheim Nickersberg (1950 – 1963)[2]

Presse

Paul Bartsch empfängt Kinder

Anlässlich der Übergabe des Kinder-Kurheimes Nickersberg an die Gesamtkirchengemeinde Karlsruhe im Jahr 1963 war in einem Bericht der „Badischen Neuesten Nachrichten“[3] zu lesen: „Am Dienstagnachmittag nahmen Dr. Paul Bartsch und seine Gattin Abschied von ihrer Wirkungsstätte. Genau am 1. Mai 1950 waren sie eingezogen und hatten ein kleines Erholungsheim übernommen. In jahrelanger Arbeit hatten sie es erweitert, sodass das Kinderheim Nickersberg in seiner jetzigen Form geradezu eine Insel des Friedens und eine ideale Erholungsstätte darstellt.“ Zu den letzten „kleinen Feriengästen“, die kurz vor der Übergabe das Heim verließen, schreibt der Autor des Artikels: „“Sie waren einige der 10.000, die im Laufe der vergangenen Jahre unter der Obhut des Ehepaares Dr. Bartsch und der Kindertanten an Leib und Seele gestärkt worden waren, und sie gehören sicherlich zu den vielen, die auch später noch immer wieder in Briefen die Verbindung mit jenen Menschen suchen, die sie für einige Wochen mit viel Liebe betreuten.“ Weiter wird ausgeführt: „In zu Herzen gehenden Worten drückte Dr. Bartsch aus, was ihn in dieser Stunde des Abschiednehmens bewegte. Er erinnerte an die Fülle der Eindrücke, die auf ihn im Laufe der Nickersberg-Jahre eingestürmt seien, an das Wohlwollen, mit dem ihm die vielen Kinder begegnet seien …“. Zeitzeugen zeichnen ein ganz anderes Bild.

Verena

„Meine Zwillingsschwester und ich wurden 2- oder 3-mal verschickt, einmal in den Sommerferien 1962, wir wurden 8 Jahre alt, als „untergewichtige“ Privatpatienten (unser Vater war Beamter) nach Haus Nickersberg. Meine Schwester hatte mehrmals eine „Lungenentzündung“ gehabt, und ich musste mit. Schmackhaft gemacht hat man uns, die wir gerne schwimmen gingen, das mit dem angeblich vorhandenen eigenen Schwimmbecken dort, das war jedoch dann leer und nicht in Betrieb. Unser Vater brachte uns mit dem gerade erstandenen neuen Auto, einem Ford Taunus, hin. Bei unserer Ankunft wurden wir von dem ‚Doktor‘, einem farblosen, dicklichen Mann mit wenig Haaren und zerknautschtem Anzug, empfangen, er wohnte in einem bungalowähnlichen Haus auf dem Gelände, und trat dann nicht mehr in Erscheinung. Dann wurden wir zu unserem Schlafsaal gebracht. Jeder hatte irgendwie ein persönliches Fach. Aber alles, was unsere Mutter uns an Süßigkeiten und Spielsachen mitgegeben hatte, wurde konfisziert, ‘weil wir ja die anderen Kinder nicht traurig und neidisch machen wollten‘, es wurde aber auch nicht ver- oder geteilt, wir sahen es einfach nicht wieder.

Postkarte an die Eltern kurz nach der Ankunft

Auch unseren Berichten wollte niemand Glauben schenken, über zensierte Postkarten, nicht enden wollenden Mittagsschlaf, bei gutem Wetter draußen auf einem leicht abfallenden Gelände unter Nadelbäumen auf irgendwelchen Drahtbettgestellen, anstrengende Wanderungen, eingezogene Süßigkeiten und Geschenke, die unsere Eltern uns etwa zum Geburtstag geschickt hatten, essen müssen bis zum Erbrechen, das Erbrochene aufessen bzw. wenn im Schlafraum, selber wegwischen müssen. Ich erinnere mich an den Kampf mit der Kotze (Reis oder Nudeln mit Sauce?) in rot-weiß-karierter Bettwäsche und habe den Geruch noch heute in der Nase. Beim Mittagsschlaf gab es immer wieder „Probleme“ mit einem älteren Mädchen, das anfing zu schreien und/oder „Anfälle“ hatte. Sie wurde dann mit Gewalt von den Betreuerinnen weggebracht. Erklärt wurde uns hierzu natürlich nichts. Die einzigen positiven Erinnerungen habe ich an einen Ausflug in den Wald, bei dem wir Tannenzapfen, Äste usw. sammelten und daraus kleine Boote bastelten, die wir dann irgendwo in einem Bach schwimmen ließen.

An engere Kontakte zu anderen Kindern, die zur selben Zeit dort waren, oder an Namen erinnere ich mich nicht. Das mag daran liegen, dass ich mit meiner Zwillingschwester dort war und wir zwei dort eine „Schicksalsgemeinschaft“ bildeten. Es wurde immer sehr viel gesungen, Lieder aus der Mundorgel wie „Abendstille überall …“, „Von den blauen Bergen …“, „Im Frühtau zu Berge …“, oft zackige Männerlieder wie „Wilde Gesellen ….“, „Wir lagen vor Madagaskar …“, aber auch das – wie ich heute weiß – Kriegslied „Die blauen Dragoner …“. Bei uns zuhause wurde nicht gesungen, und ich fand es sehr schön. Die schönen Erinnerungen an das Singen wurden aber getrübt durch die hochsommerlichen Gewitternächte: Bei schweren Gewittern nachts wurden wir geweckt, wir mussten uns anziehen und mit irgendwelchem Notgepäck unten im dunklen (?) Tagesraum versammeln. Dort saßen wir dann voll Panik und mussten singen. Heute kann ich nicht singen, ohne dass mir die Tränen kommen, obwohl ich sehr gerne singen würde, und es stellt sich mir gerade erstmalig die Frage, ob die Ursache dafür nicht in diesen Gewitternächten in Haus Nickersberg liegt.“

Axel

Der neunjährige Axel wurde 1958 wegen Untergewicht mit seiner ein Jahr jüngeren Schwester für fünf Wochen im Kinderkurheim Nickersberg untergebracht, empfohlen vom Gesundheitsamt, weil „im Prospekt fröhliche Kinder, die in einem Schwimmbecken planschen“, zu sehen waren und es unter „kinderärztlicher Leitung“ stand. Er berichtet: „Wir wurden am Bahnhof Ludwigsburg von einem Bus aufgelesen und kamen nach mehrstündiger Fahrt ohne Pause und Verpflegung in Nickersberg an. Dort wurden uns als Erstes Postkarten ausgeteilt und ein euphorischer Text diktiert, um unsere Eltern zu benachrichtigen.[4] Was uns schon gleich bei der Ankunft auffiel war, dass das tolle Schwimmbecken aus dem Prospekt mit Müll verfüllt war.“ Er berichtet dann von einer netten Gruppenleiterin, die nach drei Wochen rausflog, weil sie den Kindern zu viel durchgehen ließ und ihnen nach dem Frühstück keine Liegekuren verordnete. Dies änderte sich krass nach deren Weggang: „Wir mussten uns sofort nach dem Frühstück auf im Freien aufgestellte alte Bettgestelle legen und dort bis zum Mittagessen in der prallen Sonne liegend ausharren. Damit man nicht direkt auf den rostigen Bettgestellen lag, musste man sich vorher aus einem offenen Schuppen eine ausgemusterte, meist mit Urinflecken versiffte, aufgeplatzte Matratze als Unterlage holen. Nach dem Mittagessen ging es dann bis zum Abendessen mit dem Liegen weiter, dann ging es ins Bett. Sprechen oder Lesen war strengstens verboten. Für Kinder mit natürlichem Bewegungsdrang war das eine richtige Qual, vor allem wenn es mehrere Tage hintereinander so ging.“

Die sanitären Verhältnisse waren, nach Meinung von Axel, selbst für damalige Verhältnisse, katastrophal: „Es gab für mehrere Jungen-Gruppen nur zwei Toiletten. Sie wurden höchst selten oder vielleicht auch nie gereinigt. Oft waren sie verstopft und liefen über, so dass die Fäkalien auf dem Boden schwammen. Repariert wurden sie manchmal erst nach Tagen, sodass in der Zwischenzeit nur eine Toilette zur Verfügung stand. Da sie abends nicht mehr zugänglich waren, machten viele Kinder ins Bett. Man wurde ausgeschimpft, dann wurde die Matratze einfach umgedreht.“

Über die Körperpflege schreibt er: „Sie bestand darin, dass man sich mit freiem Oberkörper nach dem Aufstehen über eine Badewanne beugen musste und dann Rücken und Kopf mit kaltem Wasser abgeduscht wurde. Richtig gebadet wurde gelegentlich auch mal, allerdings im Fließbandverfahren: Eine volle Badewanne musste für mehrere Kinder reichen.“

Das Essen war aus Sicht von Axel oft ekelerregend: „Die meisten Kinder fanden die fettigen Fleischklumpen im Essen und das Gemüse in Mehlpampe wenig genießbar. Ein Highlight waren fädige Bohnen in Mehlsauce, in die Blutwürste ausgedrückt waren (man hielt Schweine). Zum Frühstück gab es einen undefinierbaren Brei. Es musste immer vollständig aufgegessen werden, vorher kam man nicht vom Tisch weg oder bekam die Post von daheim nicht ausgehändigt. Serviert wurde in angeschlagenen Blechtellern, Getränke in abgeschabten Plastikbechern, die einen prägnanten Eigengeruch aufwiesen. Freitags gab es immer Buttermilch, in der Fettflocken schwammen, wir fanden das alle eklig.“

Tante mit Klampfe

Wie gestaltete sich die „Kinderärztliche Leitung? Axel schreibt: „Kranke Kinder wurden in einem abseitsstehenden Schuppen ausgelagert. Dort lagen sie – abgesehen von kurzen Inspektionen durch eine Gruppenleiterin morgens und abends – ohne Aufsicht alleine oder zu mehreren in einem Raum, bis man sie irgendwann wieder als gesund betrachtete. Ein Arzt kam nie.“ Seine Schwester hatte eine sehr schwere Mittelohrentzündung, während deren Ausheilung sie unbehandelt im Krankenschuppen zubringen musste und die Bartsch im Abschlussbericht als „vorübergehende Drüsenempfindlichkeit“ beschrieb. Über den Heimleiter schreibt Axel: „Der Besitzer des Heims ließ sich fast nie blicken, er wohnte in einer Villa neben dem Heim und hat sich eigentlich um nichts gekümmert, außer dass er manchmal Kinder und Mitarbeiter von der Terrasse aus anbrüllte, wenn es ihm zu laut wurde.“

Axel beschreibt auch einen Ausflug: „Zwei Busse voller Kinder mussten den Tag über in glühender Hitze wandern, zum Mittagessen gab es für jedes Kind eine halbe Flasche Limonade. Klagen über Durst wurden ignoriert, wir haben dann aus einem Bach getrunken.“

Monika

Monika war als Fünfjährige im Mai/Juni 1959 zum Kuraufenthalt auf dem Nickersberg. Ihr setzte vor allem die „militärische Strenge“ zu. Sie schreibt: „Bis ins mittlere Erwachsenenalter hinein geriet ich immer wieder, wenn morgens beim Aufwachen Vogelgezwitscher zu hören war, kurzfristig in große Furcht, mich beim Öffnen der Augen auf einer Pritsche unter Tannen am Haus Nickersberg wiederzufinden.“ Sie präzisiert noch an einigen Stellen die Ausführungen von Axel: „Mehrere Schlafräume gingen ohne Türen ineinander über, es gab eine Wache, die durch die Räume patrouillierte und jegliches Geräusch (auch Weinen) unter Androhung von Strafe unterband. Die Toilette durfte nachts nicht aufgesucht werden, stattdessen stand mitten im Raum ein Eimer. Der Ekel davor führte immer wieder zu nassen Laken, deren Verursacher am nächsten Tag vor den anderen bloßgestellt wurde. Während des Tages gab es zwei Ruhezeiten, nämlich am späten Vormittag eine halbstündige Liegekur und nach dem Mittagessen einen zweistündigen Mittagsschlaf. Das bedeutete absolute Stille, ansonsten drohte Strafe. Das war anstrengend, viele konnten nicht schlafen.“

Auch das Essen empfand sie als Tortur, „die Teller wurden gefüllt und mussten leergegessen werden.“ Wegen einer Infektionskrankheit befand sie sich die meiste Zeit in der Krankenbaracke, hat aber daran kaum Erinnerungen. Sie vermutet, dass ihr dort Beruhigungsmittel verabreicht wurden.

Andrea

Andrea, die mit ihrer Schwester auf dem Nickersberg war, beschreibt, wie sie einmal „den Hintern versohlt“ bekam, weil sie den Teller nicht leer aß und dass sie gesehen hat, dass andere Kinder ihr Erbrochenes aufessen mussten. Als traumatisch erlebte sie schon ihre Ankunft. Die beiden Mädchen, sechs und neun Jahre alt, waren von den Eltern mit dem Auto gebracht worden. Während diesen die Räumlichkeiten gezeigt wurden, sollten sie mit einer Gruppe spielen. Die Kinder haben noch gesehen, wie die Eltern aufgefordert wurden wegzufahren, verabschieden durften sie sich nicht.

Andrea erzählt auch ein Erlebnis ihrer Schwester „bezüglich des Kontrollwahns, der dort herrschte“: „Sie konnte schon schreiben und durfte eine Karte nach Hause schicken. Diese wurde streng zensiert und alles Negative musste entfernt werden. Eines Tages hat sie es nicht mehr ausgehalten und wollte unbedingt unsere Eltern anrufen. Das Telefon befand sich in einem Glaskasten unter Verschluss. Ich weiß nicht, wie sie es fertigbrachte, jedenfalls rief sie die Nummer des Bahnhofs in Bingen an und wollte ihren Papa sprechen. Er war dort durch seine Bahnspedition bekannt. Der Beamte rief meine Eltern an um ihnen zu sagen, dass sich ihre Tochter aus dem Schwarzwald gemeldet hatte. Auf deren Nachfrage beim Nickersberg bekam meine Schwester ordentlich Stress, weil das Telefonieren streng verboten war.“

Andrea berichtet auch, wie sie im Heim die oft heftigen Schwarzwald-Gewitter erlebte: „Frau Reiter[5], der Drachen, führte das Kommando. Wir mussten alle aus den Betten nach unten in den Aufenthaltsraum. Wir durften unsere Zudecken mitnehmen. Dann wurde gebetet und gesungen, was nur noch mehr Angst schürte. Manchmal fiel das Licht aus und man saß mit einer Kerze in der Hand da und bibberte um sein Leben.“

Toni

Erschütternd der Bericht von dem Mädchen Toni: „Ich bin als ‚Berliner Ferienkind‘ etwa sechs Wochen vor Weihnachten 1952 durch die BFA verschickt worden. Ich war gerade sieben Jahre alt und ein dünnes, zartes Kind. Um mich aufzupäppeln, bekam ich jeden Tag eine Stunde vor dem Mittagessen einen großen Becher Müsli gereicht, den ich unter Aufsicht zu mir nehmen musste. Davon noch satt, verweigerte ich dann unter Weinen das Mittagessen. Daraufhin musste ich zur Strafe im Büro des Heimleiters essen. Sobald ich gegessen hatte, erbrach ich alles. Daraufhin wurde ich ausgeschimpft, sodass ich weinen musste. So ging das fast jeden Tag. Ich hatte während dieser Zeit furchtbares Heimweh und wollte nur noch nach Hause. Weihnachten sollte es endlich soweit sein. Der Koffer war gepackt. Das Gepäck der anderen Kinder und meines standen am Bus zum Verladen. Alle durften einsteigen, nur ich wurde zurückgehalten. Weil ich an Gewicht verloren hatte, musste ich nochmals sechs Wochen im Haus bleiben. Ich habe nur noch geweint. Erst als der Bus in Berlin an der Rentenversicherung ankam, wurden meine dort wartenden Eltern informiert. Sie waren enttäuscht und fassungslos.“

Zusammenfassung

Weitere persönliche Berichte beschreiben im Großen und Ganzen die gleichen Zustände und zeigen damit ein katastrophales Bild der damaligen Kinderbetreuung, ähnlich wie es Anja Röhl in ihrem Buch[6] „Das Elend der Verschickungskinder“ von vielen anderen Heimen in der Nachkriegszeit zeichnet.

Das Essen diente der reinen Nahrungsaufnahme, unabhängig davon, ob es den Kindern schmeckte oder nicht. Liegekuren an der frischen Luft, Gewaltmärsche bei jedem Wetter und kaltes Duschen sollten den Körper ertüchtigen. Die sanitären und hygienischen Verhältnisse waren menschenunwürdig, sie zu ertragen stärkte vermutlich aus Sicht der Heimleitung die Abwehrkräfte, vor allem aber wären Verbesserungen mit hohen Kosten verbunden gewesen. Mehrere Zeitzeugen berichten auch übereinstimmend über den für sie ungewohnt militärischer Umgangston, vor allem bei der Heimleiterin. Einige meinten sogar, dass „Nazi-Lieder“ gesungen worden seien.

Einige Kinder wurden zwar in die Krankenbaracke eingewiesen, blieben dort aber ohne ärztliche Versorgung, wie das eigentlich für ein „Kurheim“ zu erwarten gewesen wäre. Dies bestätigte auch eine ehemalige Kindergärtnerin, die dort mit ihrem vierjährigen Kind in einem Zimmer untergekommen war. Ihr Mann wohnte als Hausmeister in einem benachbarten Kurheim. Selbst arbeitslos, hatte sie die kostenlose Unterkunft dankbar angenommen. Im Telefongespräch erzählte sie, dass sie die kranken Kinder alleine und ohne ärztliche Anweisungen des Dr. Bartsch betreut habe. Sie erinnert sich nicht daran, dass sie für diese Arbeit bezahlt worden war. Ihr Junge hat als einziger Zeitzeuge gute Erinnerungen an das Heim, in dem er sich frei bewegen konnte und ab und zu vom Heimleiter einen Apfel geschenkt bekam.

Röhl nennt in ihrem Buch mehrere Gründe für das unmenschliche Verhalten der Betreuer in den Kinderkurheimen. Zwei davon könnten im Nickersberg zum Tragen gekommen sein: Das weitgehend vom 3. Reich geprägte Personal[7] führte „die nationalsozialistische Erziehung zur Härte, Kälte und Disziplinierung“ fort und das Ehepaar sah im Betreiben eines Kinderheimes eine lukrative Einnahmequelle, zumal beide nicht in ihre ursprünglichen Berufe zurückkonnten oder -wollten.[8]

Zeitzeuge Axel schreibt: „Zusammenfassend würde ich urteilen, dass Kinder nicht bewusst gequält oder misshandelt wurden, sondern eher einfach von völligem Desinteresse und von Vernachlässigung betroffen waren. Dr. Bartsch wollte offensichtlich mit minimalem Aufwand und mit möglichst geringem Einsatz ordentlich Geld verdienen. Darüber hinaus haben die zuständen Behörden ihre Kontrollaufgaben wohl schlichtweg nicht wahrgenommen.“

Geschichte des Kinderheimes und Geschichte des Hauses

Heimleiterin

Karteikarte von E. Dietz

Klara Elisabeth Dietz[9], geb. am 31.12.1905 in Münster-Sarmsheim bei Bingen a. Rhein, war technische Lehrerin[10] als sie 1936 ihren ersten Mann, den Finanzinspektor Karl Kreiter, heiratete. Sie zog zu ihm nach Berlin und führte ihm den Haushalt.[11] Als er 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde, übernahm sie beim Roten Kreuz die ehrenamtliche Leitung des Berliner Säuglingsheimes Eichkamp. Kriegsbedingt wurde das Heim 1940, einschließlich der Kinder und dem Personal nach Rokitten, Kreis Schwerin evakuiert. Dort trat Dietz in das „Deutsche Frauenwerk“ ein, nachdem sie bereits 1936 Mitglied im „Nationalsozialistischen Lehrerbund“ geworden war. Nach der Übernahme durch das Landesjugendamt der Stadt Berlin, wurde Elisabeth, jetzt verheiratete Kreiter, als Leiterin des Heimes mit seinerzeit 120 bis 140 Kindern, überwiegend im Säuglingsalter, dienstverpflichtet.[12] 1944 wurde ihr das Heim, ausschließlich belegt mit Pflegekindern der Stadt Berlin, in Eigenverantwortung übertragen. Sie erhielt pro Kind einen festen Tagessatz, davon hatte sie Sach- und Personalkosten zu bestreiten. Durch den Vormarsch der Roten Armee im Januar 1945 musste Kreiter mit dem ganzen Personal und allen Kindern Rokitten innerhalb von vier Stunden verlassen. Zunächst fanden sie Aufnahme in Berlin-Hermsdorf, danach wurden sie nach Thüringen in den Landkreis Eichsfeld verlegt, nahe der späteren Grenze zu Westdeutschland. Kurze Zeit hielten sie sich in Beinrode auf, dann richtete Elisabeth Kreiter ein neues Heim in der „Alten Burg“ von Heiligenstadt ein, dies war ab Mai 1945 sowjetische Besatzungszone. Der Bürgermeister der Stadt bescheinigte ihr 1949, dass sie sich „liebevoll der ihr anvertrauten Kinder annahm“.[13]

In der Nähe, in Breitenworbis, wo sie selbst wohnte, heiratete sie am ersten April 1945 Dr. Paul Bartsch mit Wohnsitz in Berlin. Wann sie sich von Karl Kreiter, der den Krieg überlebte, scheiden ließ, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall war sie noch Ende 1940 mit ihm verheiratet. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass sie ihren zweiten Mann schon während ihres Aufenthaltes in Rokitten kennenlernte, denn er war in dieser Zeit von der Wehrmachtsverwaltung im benachbarten Schwerin als Stabsintendant[14] in einem Lazarett eingesetzt.

Kinderheim Heiligenstadt

In Heiligenstadt schied Else Bartsch aus dem Dienst der Stadt Berlin aus und führte ab 1. April 1946 das Haus selbständig. Dem (immer noch) Vertragskinderheim für Säuglinge und Kleinkinder der Stadt Berlin wurde ab 1947 ein Erholungsheim für Schulkinder angegliedert.“ Während die Schwester von Elisabeth Kreiter, Dr. med. Klara Dietz, die ärztliche Betreuung der neu eingerichteten klinischen Abteilung für Säuglinge und Kleinstkinder“ übernahm, gab sich Paul Bartsch als psychologischer Betreuer aus und vertrat das Heim nach außen. Ihm bescheinigte der Bürgermeister 1949, dass „sein ganzes Streben dahin ging, das Heim wirtschaftlich und sozial zu einem Musterheim zu erstellen.“[15]

Im Frühjahr 1949 hatte die örtliche FDJ[16] auf Missstände im Heim hingewiesen, die aber vom zuständigen Kreisrat des Landkreises Worbis und vom zuständigen Gesundheitsamt aufs schärfste zurückgewiesen wurden. Im Besichtigungsprotokoll ist u.a. nachzulesen: „Die Kinder machen einen frohen und aufgeschlossenen Eindruck. In keinem Fall konnte eine Verschüchterung oder Zwangsstimmung festgestellt werden. Ernährungsmäßig sind die Kinder in einem guten Zustand. Auf Befragung einzelner Kinder konnte immer wieder festgestellt werden, dass das Essen gut schmecke.“ Die Anschuldigungen selbst waren in den vorhandenen Akten nicht aufzufinden. In einem anderen Zusammenhang schreibt das Hilfswerk Berlin: „Die Kinder in Heiligenstadt wurden körperlich sorgfältig gepflegt, in ihrer psychischen Entwicklung sachkundig beobachtet und erzieherisch gefordert. Herr Dr. Bartsch selbst hat eine psychotherapeutische Ausbildung.“[17]

Nachdem das in Westberlin gelegene Bezirksjugendamt Steglitz keine Kinder mehr in das in der russischen Besatzungszone gelegene Heiligenstadt verschicken konnte, aber ankündigte, dass es dies weiter für ein Kurheim im Schwarzwald tun würde, bemühte sich das Ehepaar Bartsch im Frühjahr 1949 „um ein geeignetes Objekt für die Inbetriebnahme eines neuen Heimes in Furtwangen.“[18] In einem Empfehlungsschreiben an das Jugendamt Freiburg sicherte das Hilfswerk Berlin zu, „regelmäßig 30 Plätze zu belegen“.[19]

Sasbachwalden

Offensichtlich kam die Übernahme eines Heimes in Furtwangen nicht zustande und das Ehepaar Bartsch wandte sich an die Gemeinde Sasbachwalden, um das leerstehende „Hotel Hohritt“ anzumieten. Im Mai 1949 stellten sie unter „Else und Otto Bartsch“ beim zuständigen Landratsamt Bühl den Antrag auf Betrieb eines Heimes für 64 Kinder, der erst am 21. Oktober genehmigt wurde. In der umfangreichen Korrespondenz mit den Behörden trat zunehmend Paul Bartsch als Heimleiter auf. In der Akte fanden sich aber auch Behördenschreiben, in denen von einem Otto Bartsch die Rede war, obwohl es sich zweifelsfrei um Paul handeln musste. Für den Einzug in Hohritt spricht eine Abmeldeliste mit einem Tross von 15 Personen, die offensichtlich aus Heiligenstadt nachgeholt worden waren. Ansonsten fanden sich keine weiteren Hinweise und es erinnert sich auch heute in der Gemeinde niemand, dass es dort jemals ein Kinderheim gegeben hat.

Nickersberg

Am 1. Mai 1950 bezog das Ehepaar Bartsch dann den Nickersberg, nachdem es das Haus vom Land Baden und das dazugehörige Gelände von der Gemeinde Altschweier gekauft hatte. Mit ihnen zogen die 15 bereits genannten weiblichen Beschäftigte mit ein. Auffällig ist, dass die meisten Frauen „Volksdeutsche“[20] gewesen sein müssen, denn sie stammten aus Polen, Russland, Tschechoslowakei und Dänemark. Vermutlich konnten sie wegen ihres Bekenntnisses zum 3. Reich nicht mehr zurück in ihre Heimatländer und hatten gleichzeitig wegen fehlender beruflicher Qualifikationen kaum eine Chance woanders unterzukommen.

Wehrmacht

Erbaut wurde das Haus Nickersberg 1938[21] als Erholungsheim des Artillerie-Regimentes 33, dazu verpachtete die Gemeinde Altschweier dem Regiment 4000 Quadratmeter Wald auf die Dauer von 99 Jahren. In der Urkunde zur Grundsteinlegung ist nachzulesen: „Aus der Liebe zu den Bergen der Heimat entstand der Gedanke, im Schwarzwald ein Heim zu schaffen, in dem Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften Erholung finden und Kameradschaft pflegen sollen. 1938 im Jahre der Verwirklichung des großdeutschen Gedankens durch die Vereinigung Oestreichs mit dem Altreich wurde die Arbeit zur Schaffung des Heimes in Angriff genommen.“[22]

Mit dem Kriegsausbruch im Jahr 1939 wurde das Haus von der Wehrmacht und SS als Wetterstation, Fernschreib- und geheime Funkstation benützt. 1947 übernahm es die Französische Armee und brachte dort Kinder zur Erholung unter.[23] Als Militärgelände wurde das Haus Eigentum des bei der badischen Regierung angesiedelten „Wiedergutmachungsfonds“. Von diesem kaufte das Ehepaar Bartsch das Gebäude im April 1950 für 27.000 DM ab, das dazugehörige Grundstück mit 2200 Quadratmetern für 1094 DM von der Gemeinde Altschweier. Durch den Zukauf angrenzender Gemeindegrundstücke in den Jahren 1952 und 1955 besaß das Ehepaar am Ende 6200 Quadratmeter, erworben zu einem Grundstückpreis von 0,50 DM pro Quadratmeter. In dieser Zeit wurden ein Schweinestall, eine Krankenbaracke und ein kleines Schwimmbecken im Außengelände gebaut. Außerdem erstellte das Ehepaar eine „Wohnbaracke“ im Wert von 8100 DM - vom Finanzamt so bescheinigt. Die Verschickungskinder bezeichneten allerdings das Einfamilienhaus im Bungalow-Stil als „Villa“. Finanziert wurde dies alles durch Hypotheken in Höhe von insgesamt 53.000 DM durch die „Landeskreditanstalt für Wohnungsbau“ und die Bezirkssparkasse Achern.[24] Die Landesversicherungsanstalt stellte das Mobiliar.[25]

Heimbetrieb

Prospekt Nickersberg

Von nun an trat Dr. Paul Bartsch als Leiter und Namensgeber des Heims auf. In einer Werbebroschüre ist zu lesen: Haus „Nickersberg“ wird Schwarzwald-Höhen-Kinderkurheim Dr. BARTSCH mit Kneipp-Anlagen, Gymnastikhalle und eigenem Schwimmbad. Mit Bildern illustriert ist weiter zu lesen: „Hier bemühen sich Schwestern und Kindergärtnerinnen, die Gesundheit überwacht die Kinderärztin, der Onkel Doktor und Tante Else freuen sich, wenn Ihr zu uns kommt.“ Und: „Behaglich ist es in Euren Herzbettchen“ und „Ausruhen in Freiluft-Liegekuren“. Auch eine ganze Reihe Ausflüge werden angekündigt: Mummelsee und Hornisgrinde, Kehl und Straßburg, Baden-Baden und Schwarzenbach-Talsperre. Wie wenig von den vollmundigen Versprechungen tatsächlich umgesetzt wurde, zeigen die Schilderungen der Zeitzeugen in Abschnitt 2.

Das Ehepaar, er ursprünglich evangelisch dann „gottgläubig“ und sie katholisch, pflegten beste Beziehungen zur katholischen Kirche, die auch dort sonntags Gottesdienste abhielt. Dabei verschwiegen sie wohlweislich, dass beide geschieden waren und in zweiter, kirchlich gesehen „wilder“ Ehe lebten.[26] Sie selbst gab sich als mit Paul Bartsch seit 1939 verheiratet[27] aus. Die beiden hatten außerdem einen Jungen als Pflegekind bei sich, aller Wahrscheinlichkeit nach das leibliche Kind von Paul Bartsch aus einer anderen Beziehung.

Das Personal war eng verbunden mit Else Bartsch, die weiterhin die Aufsicht über das Heim und die Kinder hatte, und die immer noch mit Frau „Kreiter“, ihrem Namen aus erster Ehe angesprochen wurde - von den Kindern fälschlicherweise als „Reiter“ verstanden. Bei ihrem langjährigen Kampf um Entschädigung für die Vermögensverluste im Kinderheim Rokitten wurde sie von ihrem treuen Personal mit Gefälligkeitsaussagen unterstützt. Angeblich hatte Else Bartsch dort ihre Möbel aus der aufgegebenen Wohnung in Berlin eingebracht und bei der Flucht vor der russischen Armee zurückgelassen, genauso wie Haushalts- und Einrichtungsgegenstände. Letztere listete sie akribisch auf, von der Bettwäsche und den Kochtöpfen bis zur Schreibtischlampe und den Frottiertüchern. In der Liste war auch ein Kutschpferd mit Geschirr und ein viersitziger Landauer enthalten. Durch wiederholte Eingaben erhielt Else Bartsch in den Jahren 1962 bis 1970 insgesamt 23.000 DM an Lastenausgleich.[28]

Verkauf des Heimes

Wie dem Artikel der BNN im zweiten Abschnitt dieser Dokumentation zu entnehmen ist, führte das Ehepaar angeblich ein erfolgreiches Kinderkurheim - so in der Öffentlichkeit wahrgenommen und von den Aufsichtsbehörden bestätigt. Erfolgreich war das Ehepaar Bartsch auf jeden Fall in wirtschaftlicher Hinsicht. Nach der Schließung des Kinderkurheimes im Jahr 1963 wurde das Anwesen von der katholischen Gesamtgemeinde Karlsruhe übernommen, um daraus eine Familienbegegnungsstätte zu machen. Diese ging von einem Wert der Gebäude und des Geländes von 300.000 DM aus. Der Betrag wurde umgerechnet in eine Direktzahlung von 180.000 DM, der Übernahme der Restschulden von 23.000 DM und einer Leibrente für das Ehepaar von monatlich 1925 DM bis zum Tod des Letztversterbenden, verbunden mit einer Anpassungsklausel in Anlehnung an die Beamtenbesoldung.[29]

Leben und Wirken des Paul Bartsch

Bildung

Paul Bartsch[30] wurde am 20. April 1893 in Berlin geboren und wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf, der Vater war Klempner, die Mutter Hausfrau. Nach der achtjährigen Volksschule machte er eine Tischlerlehre, danach besuchte er eine „Präparandenanstalt“, in der er sich für das Studium an einem Lehrerseminar vorbereitete. Das zweijährige Lehrerseminar in Kyritz (Brandenburg) schloss er im August 1914 mit der ersten Dienstprüfung für Volksschullehrer ab. Noch im gleichen Jahr trat er freiwillig in das 1. Reserve Garde Regiment in Potsdam ein und wurde im November 1918 als „kriegsbeschädigt“ entlassen.[31]

Bartsch arbeitete danach an einer nicht bekannten Volksschule und legte 1920 die 2. Dienstprüfung ab. Zwei Jahre später, im Mai 1922, qualifizierte er sich als „Hilfsschullehrer“. Teils parallel dazu (Mai 1921 bis April 1924) studierte er an der Universität Berlin Psychologie, aber ohne Abschluss. Von dort wechselte er auf die Berliner Handelshochschule, wo er nach eigenen Angaben die Prüfung als „Diplomhandelslehrer“ ablegte - verbunden mit einer Zusatzprüfung in Latein, die ihm ohne Abitur den Zugang zu einem Universitätsstudium eröffnete. Bemerkenswert ist die Berufsbezeichnung in der Heiratsurkunde, als er im Juli 1925 Rosa Charlotte Hähnel ehelichte: „Sonderschullehrer, Kandidat der Handels- und Betriebswirtschaft“. Fest steht, dass er ab Oktober 1926 in Berlin als Berufsschullehrer unterrichtete. Offensichtlich hielt er dies nicht lange durch, denn er begann im Wintersemester 1929 ein Promotionsstudium in Pädagogik an der Uni Hamburg und beendet es ohne Abschluss mit dem Wintersemester 1931. Sein Lebenslauf vermittelt den Eindruck, dass er seine Berufung nicht im Unterrichten sah und er auf jeden Fall einen Universitätsabschluss anstrebte, was ihm aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht gelang.

Nationalsozialismus

NSDAP Kartei-Karte

Bartsch trat bereits im Juli 1932 dem „Nationalsozialistischen Lehrerbund“ (NSLB) bei. Einen Monat nach der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 wurde er sowohl Mitglied in der NSDAP[32] als auch in einigen angeschlossenen Verbänden, wie der „NS-Wohlfahrt“ und dem „Kolonialbund“. In dieser Zeit war er an der Berufsschule Horst-Wessel in Berlin, in der Abteilung „Heil- und Pflegeanstalt Wuhlgarten“ tätig. Mit seiner seltenen Doppelqualifikation „Hilfsschullehrer“ und „Handelsschullehrer“, ergänzt durch einige Semester Psychologie, schien er vermutlich für diese Tätigkeit besonders geeignet. Die Einrichtung Wuhlgarten war eine „Anstalt für Epilepsie“. Dort waren im Jahr 1933 etwa 1250 Patienten untergebracht. „Über Tausend Patienten fielen in den Jahren danach dem sogenannten Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer. Sie wurden aussortiert und deportiert oder direkt in der Einrichtung umgebracht.“[33] Es ist nicht vorstellbar, dass dies ohne sein Wissen geschehen konnte. Reichsfachgruppenleiter. Im Mai 1934 wurde Bartsch im NSLB zum „Reichsfachgruppenleiter für das Anstaltserziehungswesen“[34] ernannt (siehe Abb. 7), gleichzeitig übernahm er in der Fachzeitschrift „Die Deutsche Sonderschule“ die Schriftleitung für den Bereich „Anstaltserziehungswesen“ und wurde 1935 „Mitarbeiter im Rassenpolitischen Amt der NSDAP-Reichleitung[35].

Die Deutsche Sonderschule

Ernennung von Bartsch zum Reichsfachgruppenleiter

Wenn man seine Aufsätze in „Die Deutsche Sonderschule“ liest, erhärtet sich der Verdacht, dass Bartsch zumindest bei der Begutachtung und Aussortierung von Patienten beteiligt war. So fordert er in dem Artikel „Sonderschullehrer auf dem Marsch“[36] seine Kollegen auf, die „brauchbare Schülerschaft in die Lebensformen des Dritten Reiches einzuführen“, die „unbrauchbare (Schülerschaft) dagegen rücksichtslos auszumerzen“. Als zukünftige Aufgaben der Sonderschullehrer sieht er: Die erbbiologische Bestandsaufnahme und Sichtung der erbkranken Bevölkerung, die Mitarbeit in den kriminalbiologischen Forschungsstellen an Fürsorge- und Strafanstalten, die Meldepflicht für die Durchführung des Sterilisationsverfahrens, das Tätigwerden als Gutachter und Übernahme von Propagandaaufgaben „bei der Durchdringung des völkischen Lebens mit erbbiologischem Gedankengut“. Außerdem solle verhütet werden, dass „wahllos sinnesgeschädigte, gefährdete und abgeglittene Jugend in die Staatsjugend hineinströmt.“ Schließlich appelliert er: „Sichert als Amtswalter des nationalsozialistischen Staates durch Auslese und Ausmerze in eurer Schülerschaft das Gesamtschicksal unseres Volkes.“ Sein Artikel endet mit: „Wir wollen im Kreise engster Berufskameraden täglich und stündlich die Bestätigung dessen erhalten, was als festgefügter sieghafter Glaube in uns lebt, nämlich Bekenntnis zum Führer und seinem Wollen in unserer Berufsarbeit.“ In seinen Schriften in „Die Deutsche Sonderschule“ findet man Rechtfertigungen für Konzentrationslager, Zwangssterilisation und Euthanasie, schon lange bevor diese Maßnahmen richtig anrollten. So schreibt er in dem Artikel „Meine Berufskameraden im Anstaltsdienst“[37]: „Unerbittlich wird der nationalsozialistische Staat die ‚Früchte‘ des vergangenen ‚Wohlfahrtsstaates‘ durch Dauerinternierung beseitigen.“ Und: „Die unnachsichtige Ausmerze aller Lebensuntauglichen aus der erzieherischen Arbeit in Anstalten schafft eigentlich erst die Voraussetzung für die betonte Zuwendung zu den geschädigten, lebenstauglichen Volksgliedern und ihren Daseinsbedingungen.“ Noch im gleichen Jahr verlangt er von Kranken[38], dass „ihr Krankheitsbewusstsein zu einem Opferbewusstsein“ reift. „Dem vom Schicksal ergriffenen kranken deutschen Volksgenossen ist eine kämpferische Leistung heldischer Art zugewiesen: Durch stille Verzichtleistung und Opfer auf Eigenglück und zukünftiges Leben.“

Im Jahr 1937 begründet Bartsch unter dem Thema „Weltanschauung und Erziehung“[39] das Anstaltswesen unter nationalsozialistischem Vorzeichen in „Die Deutsche Sonderschule“. Dies formuliert er in der für ihn typischen pathetischen Ausdrucksweise, wie sie auch von den politischen Nazi-Größen gepflegt wurde: „Die Jugend zum Volke hinzuführen und zu allem Großen und Heiligen, ist ein Auftrag, vor dem jede Generation steht.“ „Aus der nationalsozialistischen Weltanschauung heraus die Völkischen Notwendigkeiten und Anschauungen des Staates als ihre eigenen Ziele und Wünsche zu empfinden, das ist die letzte, wirkliche Aufgabe der gegenwärtigen Erziehung.“ Am Ende seines Artikels führt er dann zum wiederholten Male aus, dass die „Einsatzfähigen und Leistungswilligen, anstatt behütet, der „deutschen Arbeitsfront“ zugeführt werden sollen, und die erbbiologisch belasteten Sippen „ausgelesen“.

Erstaunlicherweise veröffentlichte Bartsch 1938 keine weiteren Artikel und 1939 nur einen wenig bedeutsamen über „Freizeit, Feierabend und Feier im Heim“. Seiner Personalakte[40] ist zu entnehmen, dass seine Tätigkeit als Berufsschullehrer am 31. März 1939 endete. Über Gründe kann man nur spekulieren. Vielleicht gab es nach dem von ihm forcierten Ausleseverfahren in der Außenstelle der „Heil- und Pflegeanstalt Wuhlgarten“ keine Schüler mehr. Vielleicht sind ihm aber auch bei dem brutalen Vorgehen gegen Kinder und Jugendliche erst die Konsequenzen dieser Propaganda bewusst geworden, die er so nicht mehr mitmachen wollte, denn er war mit Sicherheit von der bevorstehenden Umsetzung der Euthanasie informiert[41] - schließlich gehörte er zum propagandistischen Führungspersonal der NSDAP.

Wehrmacht

Für diese These spricht auch, dass er im Herbst des gleichen Jahres freiwillig in die Wehrmacht eintrat. Im Alter von 46 Jahren und aus dem Ersten Weltkrieg kriegsversehrt zurückgekommen, wäre er nicht mehr eingezogen worden, diese Grenze lag bei 45 Jahren.[42] Damit ruhte aber auch seine Parteimitgliedschaft[43], was es ihm erleichterte, diese nach dem Krieg geheim zu halten. Aus seiner aktiven Tätigkeit bei der Wehrmacht ist lediglich bekannt, dass er sich zwischen Dezember 1940 und September 1941 wegen Nierensteinleiden mehrmals in Lazaretten aufhielt. Nach eigenen Angaben muss er danach als Stabsintendant[44] bei der Lazarett-Wehrmachtsverwaltung in Schwerin eingesetzt worden sein.

Promotion

Im Jahr 1941, obwohl schon Wehrmachtsoffizier, bewarb sich Bartsch an der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg um die Promotion. In dieser Zeit gab es eine Promotionsordnung, nach der mit einem Vollstudium in einem Haupt- und zwei Nebenfächern und der Dissertation der Doktor-Titel ohne einen vorherigen akademischen Abschluss erworben werden konnte.[45] Auf seinen Antrag hin wurde ihm als vorausgehendes Studium sein Vorlesungsbesuch im Fach Psychologie in Berlin und das im Fach Erziehungswissenschaft in Hamburg in den 20er Jahren angerechnet. Mündlich geprüft wurde er dann im Hauptfach Erziehungswissenschaft und in den Nebenfächern Psychopathologie und Volkskunde. Genehmigt wurde dies als „Not-Promotion“, da das Studium weder in der Fächerwahl noch im Umfang den üblichen Anforderungen entsprach. Auch dass es bereits über zehn Jahre zurücklag, wäre unter normalen Umständen nicht akzeptiert worden. Dass die Fakultät seinem Antrag entsprach, lag wohl in der ideologischen Nähe zu den beiden Professoren, Prof. Dr. Deuchler (Erziehungswissenschaft) und Prof. Dr. Hans Bürger-Prinz (Psychopathologie),[46] die seine Dissertation betreuten und bewerteten. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass ihm (nach eigener Aussage) vom Bildungsministerium, nach dem Erwerb des Doktor-Grades, eine Stelle als Dozent in einem Lehrerseminar zugesagt worden war. Außerdem hatte er schon in den 20er Jahren bei Deuchler studiert.

Im Januar 1942 legte Bartsch dann die mündliche Prüfung ab, erwartungsgemäß von Deuchler und Bürger-Prinz mit „sehr gut“ bewertet. Prof. Dr. Lauffer, der das zweite Nebenfach „Deutsche Altertums- und Volkskunde“ prüfte und von dem keine Nähe zum Nationalsozialismus aktenkundig ist, fällte mit „genügend“ allerdings ein vernichtendes Urteil, ließ ihn aber gerade noch durchkommen, weil er „einem Mann, der erst seit zweieineinhalb Jahren die Uniform trägt“, die Zukunft nicht verbauen wollte.[47]

In Bartschs Dissertation „Der Pflegling und seine Anstalt“[48] macht der Verfasser „die Bildungsgestalt des Pfleglings und dessen Lebensbereich zum Gegenstand seiner Untersuchung.“[49] Es handelt sich um eine sehr theoretische Arbeit mit einer, selbst von Gutachter bemängelten, Vielzahl von Begriffsschöpfungen mit denen er die „Pflegebedürftigkeit“, die „pflegerischen Kräfte“ und die „Pflegeanstalt“ beschreibt. Erstaunlicherweise ist wenig an nationalsozialistischem Gedankengut zu finden. Dies bestärkt die Vermutung, dass er sich inzwischen davon distanziert hatte. Keine Erklärung gibt es wiederum dafür, dass die Dissertation erst im Frühjahr 1944 bewertet wurde, also zwei Jahre nach der mündlichen Prüfung – und das, obwohl Bartsch in seinem Bewerbungsschreiben 1941 mitgeteilt hatte, dass sie bereits fertig vorliege.

Neue Identität

Kurz vor Kriegsende, im April 1945, immer noch Stabsintendant, ehelichte Bartsch seine zweite Frau, die damalige Elisabeth Kreiter, geb. Dietz, von der ersten hatte er sich bereits 1937 scheiden lassen. Zu ihr nach Breitenworbis gezogen ist er aber erst im April des folgenden Jahres.[50] Diese Daten passen nicht zu den Angaben im „Meldebogen“, den er zur „Entnazifizierung der Spruchkammer vorlegte[51], dass er sich 1945 und 1946 in russischer Gefangenschaft befunden habe. Viel wahrscheinlicher ist, dass er in dieser Zeit bereits im Kinderheim seiner Ehefrau als „praktischer Psychologe“ tätig war. Das „Hilfswerk Berlin bescheinigt sogar in einem Schreiben vom März 1949, dass „Dr. Otto Bartsch und seine Ehefrau Else Bartsch seit mehr als zehn Jahren ein Vertragskinderheim der Stadt Berlin geleitet haben.“[52] Darin stimmen weder sein Vorname, noch der genannte Zeitraum. Es zeigt aber, dass sich Bartsch nach dem Krieg Gefälligkeitszeugnisse beschaffte, die seine neue Identität stützen sollten.

Schlussgutachten von Bartsch

Im Meldebogen für die Entnazifizierungsbehörde verschwieg Bartsch zudem seine Mitgliedschaft in NSDAP und NSLB und in den anderen Unterorganisationen der NSDAP, genauso wie seine Lehrerqualifikationen und konkrete Lehrtätigkeit. Stattdessen gab er für die Jahre 1932 bis 1934 an, in der Wirtschaft gearbeitet zu haben. 1935 war er angeblich Angestellter in Heimen der Stadt Berlin, 1936 „beratender Psychologe“ in Berlin und Hamburg, 1937 bis 1939 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg und gleichzeitig im Kinderheim Rokitten tätig. Schließlich war er von 1939 bis 1944 Beamter in der Lazarettverwaltung in Schwerin und Landsberg, dies ist die einzige Angabe, die mit den vorliegenden Dokumenten übereinstimmt. Alle vorherigen Tätigkeiten sind reine Erfindung.[53]

Wie schon ausgeführt, gab sich Bartsch zwischen 1945 und 1949 als „praktischer Psychologe“ im von seiner Frau geleiteten Kinderheim in Heiligenstatt aus. Beim Kinderkurheim Nickersberg (1950 bis 1963) sollte sein Titel „Dr. Bartsch“ nach außen den Eindruck vermitteln, dass es unter ärztlicher Leitung stehe, wobei den zuständigen Behörden durchaus bekannt war, dass er nur als „praktischer Psychologe“ arbeitete. Seine Tätigkeit beschränkte sich im Wesentlichen auf ein Aufnahmegespräch und ein sehr oberflächliches Schlussgutachten, in dem er sich wenig qualifiziert über die Patienten äußerte, zwar Appetit und Gewichtszunahme beschrieb, aber dort durchgemachte Krankheiten verharmloste und Therapien aufführte, die gar nicht stattgefunden hatten.

1963 zog sich Bartsch mit seiner Ehefrau in den Ruhestand zurück, nachdem er als angeblich erfolgreicher Heimleiter ehrenvoll verabschiedet worden war. Das Ehepaar lebte noch bis 1969 in Sasbachwalden und zog dann ins Rheinland, die Heimat von Else Bartsch. Im April 1977 verstarb Paul Bartsch im Alter von 84 Jahren in Mainz.

Beurteilung

Abschließend stellt sich die Frage, was war Bartsch für ein Mensch? Ohne Zweifel war er einer der Propagandisten, die die Verbrechen der Nazis salonfähig machten, in dem die Eingriffe in das Leben von Menschen als schmerzhafte, aber notwendige Maßnahmen darstellt wurden, um das Deutsche Volk zu „retten“. Wie dies konkret umgesetzt wurde, musste er in „Wuhlgarten“ erlebt haben, vielleicht war er sogar an den Verbrechen persönlich beteiligt.

Wenn man den Lebenslauf des Paul Bartsch betrachtet, kommt man zu dem Schluss, dass sein vehementes Eintreten für die Nationalsozialistische Ideologie seinem Ehrgeiz und Opportunismus geschuldet war. Sicherlich ein intelligenter Schüler, hatte er von seinem Elternhaus her nicht die Möglichkeit das Gymnasium zu besuchen, schon alleine aus finanziellen Gründen. Er musste eine Lehre machen, ob er sie beendete ist nicht bekannt, und sah die einzige Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs im Lehrerberuf, bei dem das Abitur nicht Voraussetzung war. Kaum Volksschullehrer musste er bemerkt haben, dass ihm das Unterrichten nicht lag. Nach einem Zwischenspiel als Hilfsschullehrer ergab sich über die Tätigkeit als Handelsschullehrer und eine Zusatzprüfung in Latein endlich die Möglichkeit ein Universitätsstudium aufzunehmen.

Als dies scheiterte, sah er im Apparat des Nationalsozialismus eine neue Chance für einen sozialen Aufstieg. Seine Vorbildung und die Tätigkeit an der Heil- und Pflegeanstalt verschaffte ihm ein Alleinstellungsmerkmal, das er weidlich ausnützte, um sich zu profilieren. Sprachlich und rhetorisch begabt, hatte er sich schnell die pathetische Wortwahl der Nazis angeeignet. Er rief die nicht gerade begeisterten Sonderschullehrer, die um die ihnen anvertrauten Kinder fürchteten, zur Solidarität mit Führer, Volk und Vaterland auf, was ihm am Ende, wenn man seinen eigenen Worten glauben mag, eine Dozentenstelle an einer Lehrerbildungsanstalt eingebracht hätte.

Dann, so die Vermutung, gab es einen Bruch in den Jahren 1938 und 1939, in denen ihm wohl die Konsequenzen der erbbiologischen Maßnahmen drastisch vor Augen geführt wurden. Er hielt sich in seinen schriftlichen Äußerungen auffallend zurück und suchte sein Heil bei der Wehrmacht, wo er am Ende in der Verwaltung landete und, mit einem relativ hohen Rang, viele Freiheiten genoss. Gegen Ende des Krieges fing er dann schnell an, sich eine neue Identität aufzubauen. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass ihn seine unrühmliche Vergangenheit einholen könnte. Dies gelang ihm, in dem er großzügig persönliche Daten und auch teilweise seinen Vornamen fälschte und indem er jede Menge Gefälligkeitsgutachten beibrachte.

Mit „Lügen“ hatte Bartsch nie Probleme. Bei dem Vergleich seiner Lebensläufe und sonstigen Angaben, auch auf amtlichen Dokumenten, stößt man immer wieder auf falsche Daten zu seinem Vorteil. So verlegte er gerne seinen Beitritt zur NSDAP vom Mai in den April 1933, dem Monat der Machtübernahme, um eher als linientreu zu gelten, auch die Ernennung zum Fachschaftsleiter verlegte er in seinem Lebenslauf in der Promotionsakte um ein Jahr früher. Mit dem Vornamen Otto bediente er sich eines Namensvetters, der in der Immatrikulationsliste der Universität Berlin genau vor ihm stand.

Paul Bartsch hatte, so die Vermutung, einmal von einer großen Karriere geträumt. Im Westen war er dann immerhin der angesehene Heimleiter, für die Kinder der „Onkel Doktor“ und für die Aufsichtsbehörden der fähige Psychotherapeut. Befriedend war dies für ihn anscheinend trotzdem nicht, wie man aus den Beobachtungen von „Verschickungskinder“ schließen kann, die ihn und seine Brüllattacken erlebten. Das Kinderheim Nickersberg wurde von ihm sicher nicht aus Überzeugung geführt, sondern alleine, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, das erklärt auch die Kälte und der Mangel an Empathie für die dort untergebrachten Kinder. Außerdem hatten er und seine Frau als pädagogisches und medizinisches Ziel nur Abhärtung und die Gewichtszunahme im Auge. Insofern war ihre Arbeit im Nickersberg aus heutiger Sicht eine Katastrophe.

Abschließender Kommentar

Berichte in den Medien über die „sogenannten Verschickungs- und Erholungskinder“ und eigene traumatische Erfahrungen veranlassten mich, eine Dokumentation über eines dieser Heime zu schreiben. Ich wollte damit den Kindern eine Stimme geben, die dort in den 50er und 60er Jahren unter menschenunwürdigen Zuständen über viele Wochen untergebracht waren und, wenn überhaupt, pädagogisch nicht alters- und fachgerecht behandelt wurden. Bei den Eltern fanden sie vermutlich kein Gehör und hatten deshalb auch keine Gelegenheit ihre Erlebnisse aufzuarbeiten. Bei meinen Nachforschungen stieß ich auf Betreuungspersonal, das für diese Tätigkeit weder eine Ausbildung hatte, noch sich sonst für diese Aufgabe qualifizierte.

Schnell fielen mir Ungereimtheiten im Lebenslauf des Leiterehepaars auf, dann fand ich unter langwierigen Nachforschungen heraus, dass sich Paul Bartsch nach dem Krieg eine neue und politisch „saubere“ Identität verschafft hatte, dabei war er in den 30er Jahren ein wichtiger Agitator der NSDAP gewesen. Nach der „Machtergreifung“ 1933 vertrat er als Fachschaftsleiter im NSLB (Nationalsozialistischen Lehrerbund) die Forderung nach Sterilisation, Abtreibung, Konzentrationslager und Euthanasie an jungen Menschen, die angeblich erbbiologisch dem Deutschen Volke schadeten. Der gelernte Volks-, Hilfs- und Handelsschullehrer und promovierte Erziehungswissenschaftler[54] forderte sogar seine Kollegen in Vorträgen und Veröffentlichungen auf, sich aktiv an der „Aussonderung“ und „Ausmerzung“ von Menschen zu beteiligen. Um seine nationalsozialistischen Umtriebe zu vertuschen, verschaffte er sich nach Kriegsende eine gefälschte Identität. Er konnte ja nicht ahnen, wie leicht es nach der „Entnazifizierung“ und einer gewissen Schonzeit für viele Täter war, wieder in Amt und Würden zu kommen. Wäre er zurück in den Schuldienst gegangen, hätte er mit großer Wahrscheinlichkeit seinen Traum als Dozent an einer Lehrerbildungsanstalt realisieren können.

Von einer Professorin, die sich ausführlich mit dem Sonderschulwesen im 3. Reich beschäftigt hatte, erhielt ich den Hinweis, dass Bartsch ihrer Meinung nach kein „großer Verbrecher“ gewesen sei und ich mit einem Urteil über ihn vorsichtig sein sollte. Warum habe ich trotzdem fast ein ganzes Jahr lang recherchiert, um den Lebenslauf eines Mannes, der schon 45 Jahre tot ist, zu rekonstruieren?

Bartsch legte bei Behörden, selbst bei der „Spruchkammer zur Verfolgung von Naziverbrechen“, einen gefälschten Lebenslauf vor, der seinerzeit offensichtlich nicht auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft wurde. In den Akten fanden sich keinerlei Zeugnisse und Urkunden, er musste sie entweder nicht vorlegen oder sie sind nachträglich entfernt worden. Dass er auch Anfragen an Behörden unter dem Vornamen „Otto“ stellen konnte, ohne dass dies jemandem auffiel, lässt den Schluss zu, dass es an entscheidenden Stellen Mitwisser gab. Offensichtlich wurden auch Gefälligkeitsschreiben und -zeugnisse verfasst, die objektiv falsche Angaben enthielten.

Bartsch und seine Frau verschwiegen gegenüber Aufsicht und katholischer Kirche und in katholisch geprägter Region, dass sie beide geschieden und wieder verheiratet waren. Ansonsten hätte man sie vermutlich als nach katholischer Sicht in „wilder Ehe“ lebend, nicht mit der Heimleitung betraut. Die Aufsichtsbehörden sahen auch jahrelang über die hygienischen Mängel, die schlechte Verpflegung und die lieblose Behandlung der Kinder hinweg, auch darüber, dass Bartsch überhaupt kein Arzt war. Sie akzeptierten seine medizinische Auf sicht als „praktischer Psychologe“, obwohl dies keine Berufsbezeichnung ist und er auch in „klinischer Psychologie“[55] keinerlei Qualifikation besaß. Im Gegenteil, seine Tätigkeit wurde in höchsten Tönen und mit pathetischem Vokabular gelobt, die Beschwerden von Eltern abgebügelt.

Geschrieben habe ich diese Dokumentation als Zeitzeugnis dafür:

  • wie dilettantisch in den 50-er und 60-er Jahren in der Kinder- und Jugendfürsorge gearbeitet wurde,
  • wie gering Kinder und wie hoch „Respektspersonen“ geschätzt wurden,
  • wie leichtfertig man, in Ermangelung qualifizierten Personals, angeblichen Fachkräften verantwortliche Aufgaben übertrug,
  • wie viel nach dem Krieg von den Nationalsozialistischen Erziehungszielen übriggeblieben war und umgesetzt wurde,
  • wie wenig man an der Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen interessiert war,
  • wie leicht es Menschen gemacht wurde, sich der Verantwortung für ihr Tun während der Zeit des Nationalsozialismus zu entziehen.

Aus den genannten Gründen bin ich froh, bei meinen Nachforschungen hartnäckig geblieben zu sein, auch wenn ich manchmal gerne aufgegeben hätte, weil ich mich im Gewirr von Wahrheit und Lüge nicht mehr zurechtfand.

Die Dokumentation möge man auch als Mahnung an Menschen verstehen, die ihre moralischen Grundsätze aus Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis einer verbrecherischen Ideologie opfern.

Lebensläufe Dr. Bartsch

Tatsächlicher Lebenslauf Erfundener Lebenslauf
20.4.1893 Geburt
1914 Volksschullehrer (1. Prüfung)
1914 Freiwilliger 1. Weltkrieg
1919 Entlassung 1. Weltkrieg
1920 Volksschullehrer (2.Prüfung)
1922 Hilfsschullehrer
1921 - 1924 Studium Psychologie Berlin
1925 Diplomhandelsschullehrer
1929 - 1931 Studium Erziehungsw. Hamburg 1933 - 40 Nicht Mitglied in NSDAP u. NSLB
1932 Eintritt in NSLB 1932 Wirtschaftsvolontär
1933 - 1939 Lehrer in Heil- und Pflegeanstalt 1933 Wirtschaftsvolontär
1933 Eintritt NSDAP 1934 Wirtschafter
1934 Fachgruppenleiter NSLB 1935 Angestellter der Stadt Berlin
1935 Mitarbeiter rassenpol. Amt 1936 Beratender Psychologe
1939 Ende Lehrertätigkeit 1937-38 Wiss. Mitarbeiter Uni Berlin/Hamb.
1939-1945 Wehrmacht 1939 Heirat mit Else Dietz (Kreiter)
1942 Mündliche Prüfung Promotion
1944 Dissertation, Abschluss Promotion
1.4.1945 Heirat mit Elisabeth Kreiter (2. Ehe)
1945-46 Russische Kriegsgefangenschaft
1946 -1949 „Praktischer Psychologe“ Heiligenstadt
1950 -1963 Heimleiter Nickersberg
21.4.77 Verstorben in Mainz

Literatur

Bartsch, Paul, Meine Berufskameraden im Anstaltsdienst, in: Heft 1, 1934, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Sonderschullehrer auf dem Marsche, in: Heft 8, 1934, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Menschenformung im Wirklichkeitsbereich der Heil- und Pflegeanstalt, in: Heft 2, 1934, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Über das Krankheitsbewusstsein, in: Heft 6, 1934, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Carinhall und Sansouci, in: Heft 7, 1934, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Birkenwerder Nachharke, in: Heft 7, 1934, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Strafvollzug und Erziehung, in: Heft 10, 1935, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Die Reichsfachschaft V (NSLB), ihr Standort in der nationalsozialistischen Volksordnung und ihre völkischen Aufgaben, in: Heft 1, 1936, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Wirtschaftspolitische Jugendführung im Rahmen der Anstaltserziehung, in: Heft 6, 1936, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Die Reichsfachschaft V (NSLB), Leitlinien ihres Zusammenschlusses, in: Heft 10, 1936, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Zur Einrichtung des Referats für negative Schülerauslese und Sonderschulfragen im Rassenpolitischen Amt, in: Heft 2, 1937, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Der politische Auftrag des Rassenpolitischen Amtes für die Reichsfachschaft im NSLB, Heft 4, 1937, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Weltanschauung und Erziehung, in Heft 11/12, 1937, Die Deutsche Sonderschule

Bartsch, Paul, Freizeit, Feierabend und Feier im Heim, in: Heft 4, 1939

Bartsch, Paul, Der Pflegling und seine Anstalt, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Hansischen Universität Hamburg, Hamburg 1944

Gesamtkirchengemeinde Karlsruhe, Haus Nickersberg, Geschichte 1938 – 1990, unveröffentlichte Dokumentation

Hänsel, Dagmar, Die NS-Zeit als Gewinn für Hilfsschullehrer, Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2006

Röhl, Anja, Das Elend der Verschickungskinder, Psychosozial-Verlag, Gießen 2021

Autor

Dr. phil. Anton Ottmann Dr. phil. Anton Ottmann, geb. 1945 in Heidelberg, Erziehungswissenschaftler und pensionierter Lehrer für Mathematik und Physik, verfasst seit 50 Jahren Arbeitsmaterialien, Artikel und Bücher zur Pädagogik und Mathematikdidaktik. Seit 1996 mehrere Erzählbände und ein Roman im Bereich Belletristik, mehrfacher Preisträger in Mundartwettbewerben, arbeitet seit 16 Jahren als freier Journalist, u. a. für die Rhein-Neckar-Zeitung Heidelberg.
  1. Beim Standesamt Breitenworbis
  2. Die Namen der Zeitzeugen sind anonymisiert.
  3. Badische Neueste Nachrichten Mai 1963
  4. Von anderen Zeitzeugen ist bekannt, dass Ansichtskarten von den Betreuerinnen geschrieben wurden, wenn das Kind dazu noch nicht in der Lage war.
  5. Es handelte sich um die Heimleiterin Else Bartsch, die vom Personal noch mit „Kreiter“, für die Kinder „Reiter“, ihrem Namen aus erster Ehe angesprochen wurde.
  6. Anja Röhl, Das Elend der Verschickungskinder, Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Psychosozial-Verlag Gießen, 2021
  7. E. Bartsch hatte den Großteil des Personals (15 Personen) aus dem Vorgängerheim in Heiligenstadt (ehemals sowjetische Zone) nachgeholt.
  8. Welche Gründe dies hatte, wird später geklärt.
  9. Spätere Else Bartsch, Ehefrau von Paul Bartsch.
  10. In den Unterlagen ist als Berufsbezeichnung sowohl „Technische Lehrerin“ als auch „Gewerbeschullehrerin“ zu finden.
  11. „Lehrerinnen-Zölibat“: Bis 1951 wurden Lehrerinnen nach der Eheschließung aus dem Staatsdienst entlassen und verloren je nach Region sogar ihre Pensionsansprüche.
  12. Sie musste von Staatswegen den Beruf, der mit einem Gehalt verbunden war, ausüben. Damit wurde das Berufsverbot (siehe Anm. 9) außer Kraft gesetzt.
  13. Aus den Akten des Archivs des Ortenaukreises.
  14. Siehe Heiratsurkunde des Standesamtes Breitenworbis und Dokumente des Bundesarchivs. „Stabsintendant“ entspricht dem Rang eines Majors.
  15. Siehe Anmerkung 12
  16. Kommunistische Jugendorganisation
  17. Siehe Anmerkung 12, Bartsch hatte in Wirklichkeit keine psychotherapeutische Ausbildung.
  18. Siehe Anmerkung 12
  19. Siehe Anmerkung 12
  20. „Volksdeutsche“ waren im 3. Reich Menschen mit deutscher Abstammung, deren Vorfahren im Ausland lebten.
  21. Die folgenden Informationen sind der Dokumentation „Haus Nickersberg, Geschichte 1938 – 1990 der Gesamtkirchengemeinde Karlsruhe entnommen.
  22. Aus der Dokumentation der katholischen Gesamtgemeinde Karlsruhe über den Nickersberg.
  23. Gemeint: „Colonie de vacances“ (Ferienkolonie von Schulkindern)
  24. Siehe Grundbucheintragungen
  25. Siehe Akte von Else Bartsch beim „Lastenausgleichsarchiv“ des Bundes.
  26. Ehemalige Nazis wurden in den beiden Kirchen mit offenen Armen zurückgeholt, Geschiedene blieben ausgeschlossen.
  27. In Wirklichkeit erst seit 1.4.1945 mit ihm verheiratet.
  28. Siehe „Wiedergutmachungsakte“ beim Lastenausgleichsarchiv
  29. Siehe Kaufvertrag, Archiv der Erzdiözese Freiburg.
  30. Die nachfolgenden Daten entstammen teilweise eigenen Angaben in Lebensläufen, teilweise aus Dokumenten und Urkunden, die über das Bundesarchiv, das Berliner Landesarchiv und die Universitätsarchive in Berlin und Hamburg beschafft wurden.
  31. 1. Weltkrieg: 28. Juli 1914 – 11. Nov. 1918, ein Dienstrang ist nicht bekannt.
  32. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
  33. Siehe Wikipedia
  34. Dazu gehören Kinder- und Jugendheime, Gefängnisse und Psychiatrien
  35. Die Schulung von Rednern war eine der Hauptaufgaben des Rassenpolitischen Amtes, mit der eine einheitliche Sprachregelung auf dem Gebiet der Rassenhygiene erreicht werden sollte. Von hier kamen auch Vorschläge für die Formulierung entsprechen der Gesetze. Siehe Wikipedia.
  36. Heft 1, 1934, Die Deutsche Sonderschule
  37. Siehe Anm. 35
  38. Heft 2, 1934 Die Deutsche Sonderschule
  39. Heft 11/12 1937, siehe oben
  40. Im Landesarchiv Berlin
  41. Mit den anthropologischen, genetischen und eugenischen Forschungen der "Rassenhygieniker" wurde ab Herbst 1939 der als "Euthanasie" bezeichnete Mord an den Menschen gerechtfertigt, deren Leben nach NS-Ideologie "nicht lebenswert" war.
  42. Wehrpflicht bestand bis 1944 nur bis zum Alter von 45 Jahren.
  43. Das Verbot galt bis Ende 1944.
  44. Entspricht dem Dienstgrad eines Majors.
  45. Heute ist an allen Universitäten und Hochschulen für die Promotion ein qualifizierter Abschluss Voraussetzung.
  46. Beide bekannten sich sehr früh zum Nationalsozialismus und vertraten dessen erbbiologischen Thesen.
  47. Siehe schriftliche Beurteilung in der Promotionsakte.
  48. In der Universitätsbibliothek Hamburg einsehbar.
  49. Siehe Gutachten von Deuchler, Promotionsakte der Universität Hamburg.
  50. Siehe Ummeldung Landesarchiv Berlin
  51. „Spruchkammer“ steht für eine gerichtsähnliche Institution, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Entnazifizierung in Deutsch land eingesetzt war, siehe Wikipedia.
  52. Aus dem Archiv des Ortenaukreises.
  53. Siehe Tabelle am Ende der Dokumentation
  54. Er trug den Titel „Doktor der Philosophie“, weil die Erziehungswissenschaft zur Fakultät der Philosophie gehörte.
  55. Diese Fachrichtung entspricht am ehesten der „praktischen Psychologie“.