Deutschland am Hacken

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Von Horst Matthies, Hohen Viecheln.

Es ist ein von Vielen gehegter Traum. Radfahren auf der anderen Seite der Erde. Neuseeland, dort, wo man gewissermaßen Deutschland am Hacken hat. Und wenn man zwischen 60 und 70 ist, wie meine Freunde Siegfried, Wolfgang und ich selbst im Jahr 2001, wird es Zeit, ihm nachzugeben. Und so waren unsere Fahrräder schon startklar gemacht und die Flüge gebucht, als am 11. September die Jets der American Airlines gegen die Türme des World Trade Centers gesteuert wurden und Herr Bush der Welt offenbarte, unter welches Vorzeichen er das 21. Jahrhundert zu setzen gedachte. – Kreuzzug der Zivilisation gegen das Böse. – Weshalb dann auch zur gleichen Zeit als wir über London, Los Angeles und Sydney nach Auckland flogen über Afghanistan die ersten Bomben abgeworfen wurden. Wir erfuhren davon, als wir per Telefon unsere glückliche Ankunft nach Hause meldeten. Und ebenso erfuhren wir, dass dem Eifer mit dem deutsche Politiker darauf drängten, deutsche Soldaten in diese Form der Konfliktbewältigung einzubeziehen, kaum Widerstand entgegengesetzt wurde. Und so hatten wir während der nächsten 3160 km nicht nur Deutschland am Hacken, sondern auch den Krieg im Gepäck. Weshalb wir das Traumland aller Urlaubsreisenden offenbar mit anderen Augen sahen, als es die Autoren der Bildbände oder Lichtbildervorträge gesehen hatten, mit denen auch unsere Reiselust geweckt worden war.

Gewiss, auch wir erfreuten uns am frühlingshaften Blühen, ließen unsere Augen genussvoll über das mit Schafsweiß betupfte Weidengrün sanft geschwungener Hügel schweifen, fotografierten schwarze Schwäne und blaue Rallen, und vom Gelb des blühenden Ginsters, der sich auf hunderten von Quadratkilometern über steile Berghänge zog, waren wir fast überwältigt. Gleichzeitig aber wurden wir mehr und mehr von einer nachhaltige Traurigkeit erfasst. Denn immer wieder fragten wir uns, ob das, was wir da sahen, eigentlich Neuseeland sei? Gehörten doch das Weidengrün, der Ginster, Heckenrosen, Pappeln, die Schwäne, die Rallen, ja selbst die Lerchen nicht zu seiner ursprünglichen Natur. Dies alles ist vom weißen Mann, uns Europäern, die es seit der Entdeckung durch James Cook vor nicht einmal zweihundertfünfzig Jahren in Besitz genommen und besiedelt haben, importiert worden. Die ursprüngliche Natur dagegen ist bis auf wenige Reste durch Brandrodung und Raubbau getilgt oder niedergehalten worden. –    Man stelle sich vor, die mongolischen Reiterscharen, die vor siebenhundert Jahren bis über den Rhein vordrangen, hätten seinerzeit beschlossen, Mitteleuropa zu besiedeln und, um ihren Pferdeherden Weidegründe zu erschließen, den Harz, den Schwarzwald, die masurischen Wälder niedergebrannt und mit fernöstlichem Steppengras überzogen. Für Touristen aus dem Mutterland sähe das heute sicher alles sehr schön aus. Aber wäre es noch Mitteleuropa? Und was hätten wir Mitteleuropäer dabei empfunden? Was empfinden die Menschen in jenen Teilen der Welt, die von der als „Zivilisation“ bezeichneten Denk- und Wirtschaftsweise okkupiert und zum besseren Gebrauch umgeformt wurden und immer noch werden? Im Falle Neuseelands waren es mit den Maoris nur wenige zehntausend Ureinwohner, denen dabei die gewohnten Lebensumstände zerstört wurden. Die Zahl der Menschen aber, deren Lebensumstände gegenwärtig maßgeblich und meist zu ihrem Nachteil verändert werden geht in die Milliarden. Was glauben wir, die wir zu den Nutznießern dieser Entwicklung gehören, wie lange diese sich das gefallen lassen werden? Woher nehmen wir eigentlich das Recht, unser Tun als gut und gerecht anzusehen und ihrem Aufbegehren den Stempel des „Bösen“ aufzudrücken, das mit „chirurgischen“ Bombardements ausgelöscht werden muss?    –    Wo ist da „Zivilisation“?

„Bin Lahden ist doch nichts anderes als ein willkommener Zünder für die große Bombe an der die USA schon lange gebastelt haben. Das weiß doch jeder, der ein bisschen nachdenkt“, sagte uns eine Frau in Dargoville, einer Kleinstadt, nahe des Kauri Forrest, wo auf weniger als 900ha Gesamtfläche einige Reste vom ursprüng­ lichen Neuseeland unter Schutz gestellt wurden. Und in Waimamaku, wo ein Mann in der kleinsten Brauerei der Welt sich mit einer Jahresproduktion von 8000 l Bier begnügt, sahen wir einen Steckbrief, der Bin Lahden als Chodsha Nasredin darstellte, jenen Schelm, der ewig lebt, und der überall auf der Welt, wo Menschen unter einer ungerechten Verteilung des Reichtums leiden, seine Brüder hat.

Einfacher, schien uns, lässt sich die Situation am Beginn dieses von Präsident Bush verkündeten Kreuzzuges kaum fassen. Und wir meinten, davon ausgehen zu können, dass die Zahl der nachdenkenden Menschen die Zahl derjenigen übersteigen dürfte, die ihm, wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, ihre uneingeschränkte Solidarität zusicherten. Doch immer, wenn wir unsere mit dreißig Kilogramm Gepäck beladenen Fahrräder, in den Pedalen stehend, zu einem der zahlreichen Gebirgspässe hinaufgewuchtet hatten und die Reisebusse beobachteten, die dort für eine Fotopause stoppten, kamen uns arge Zweifel, dass das wirklich so sein könnte. Denn nur die wenigsten Insassen stiegen aus, um sich einen Rundblick zu gönnen. Und bei manchem Wohnmobil wurde nicht einmal der Motor abgestellt. Einfach nur ein Druck auf das Knöpfchen für den elektrischen Fensterheber, ein Klick mit dem digitalen Apparat und ab ging es, zur nächsten Attraktion. – Ein Hubschrauberrundflug über den zunehmend rascher abschmelzenden Franz-Joseph-Gletscher etwa, ein Fahrt mit einem von kräftigen Motoren angetriebenen Raftingboot über einen quellwasserklaren Bergfluss oder der Besuch einer Farm, wo zweihundert Hirschkühen weniger Platz zugestanden wird, als andernorts vierzig Schafen. – Würde, wer sich nicht einmal die Zeit für einen Rundblick nahm, bereit sein, sich die Zeit für ein Nachdenken zu nehmen, das über den Horizont des eigenen Bauchnabels hinausreicht?

Aber wozu eigentlich reist man durch die Welt, wenn nicht, um diesen Horizont zu erweitern?

Der Autor

Horst Matthies
Edition Schlitzohr
Hohen Viecheln

PhenixXenia.org präsentiert diesen Text mit freundlicher Genehmigung des Autors.