Das Brunnenunglück von Rettigheim 1921

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Rettigheim erinnert an das tragische Brunnenunglück am 1. Juni 1921
Vier Männer starben in einem Brunnenschacht an giftigen Gasen

Vor genau einhundert Jahren, am 1. Juni 1921, standen die Menschen in Rettigheim unter Schock. Vier Väter von kinderreichen Familien, Wilhelm Östringer, Johann Kamuf, Michael Kamuf sowie der Brunnenbaumeister Jakob Wahl aus Wiesental verloren beim sogenannten „Brunnenunglück“ auf überaus tragische Weise ihr Leben. Trinkwasser schöpfte man vor hundert Jahren noch aus Brunnen. Sechs davon spendeten ihr Wasser über das Dorf verteilt: Der Schulbrunnen in der Malscher Straße, der Röhrenbrunnen, das Wahrzeichen des Dorfes in der Ortsmitte, je zwei weitere in der Rotenberger und Östringer Straße, wovon einer „Kurwasser“ spendete, was auf den engen geologischen Zusammenhang mit den Thermalquellen in Bad Schönborn schließen lässt. An diesen öffentlichen Brunnen deckten die Familien bis zum Jahre 1952 ihren täglichen Wasserbedarf, es sei denn, man hatte auf dem eigenen Grundstück einen Brunnen gebohrt. Dieser wurde durch die Aufsichtsbehörden streng kontrolliert und schon bei geringer Verschmutzung sofort gesperrt. „Sauberes Wasser auf eigenem Grund ist ein kostbares Gut“, dachte man damals auch in Rettigheim.

Und hier beginnt vor genau hundert Jahren die tragische Geschichte von Michael Kamuf in der Östringer Straße 36, der für seine neunköpfige Familie Wasser aus dem eigenen, sechs bis acht Meter tiefen Brunnenschacht schöpfte. Aber oft war man – vor allem im Sommer – ohne Wasser. Also beschloss Kamuf im Mai 1921, seinen Brunnen zu vertiefen. Hilfe erhoffte er sich von einem ehemaligen Kriegskameraden aus dem Ersten Weltkrieg, einem Brunnenbaumeister aus Wiesental. Dieser sollte den harten Kalkstein am Boden des Brunnens wegsprengen und damit Wasser führende Schichten freilegen.

Am Morgen des 1. Juni traf man die Vorbereitungen, verständigte die Nachbarn über das Vorhaben und löste offenbar erfolgreich die Sprengung aus. Anschließend gönnte man sich in der Küche eine Vesperpause, um sich später vom Erfolg der Sprengung zu überzeugen. Was sich dann ereignete, lässt sich nur als Verkettung unglücklicher Umstände beschreiben, über die es widersprüchliche Augenzeugenberichte gibt. Waren sich der Hausherr und sein „Sprengmeister“ der tödlichen Gefahr gar nicht bewusst, die von den in der Tiefe entstandenen hochgiftigen Gasen ausging? Zunächst stieg der Wiesentaler Brunnenmeister in die Tiefe und blieb dort plötzlich bewusstlos liegen. Michael Kamuf bat seine Frau, ein Seil zur Rettung des Verunglückten zu holen. Doch stieg er selbst – von Hektik getrieben – ohne Seil in die Tiefe und blieb dort regungslos liegen.

Michaels Frau Juliana ahnte schon, dass etwas Schreckliches geschehen war und alarmierte ihren Schwager Johann, der in der Nachbarschaft mit Malerarbeiten beschäftigt war. Als dritter stieg er in den todbringenden Abgrund in der Absicht, die beiden leblosen Körper an einem Seil zu befestigen. Noch bevor er seinen Plan ausführen konnte, hatte auch ihn das giftige Gas betäubt. Wussten die herbeigeeilten Menschen immer noch nicht, welches tödliche Drama sich in der Tiefe des Brunnens abgespielt hatte? In ihrer Verzweiflung holten sie den damals 22-jährigen Anton Reiß aus der naheliegenden Zigarrenfabrik und baten ihn um einen weiteren Rettungsversuch. Ihm bot sich auf dem Grund des Brunnens ein Bild des Grauens, und als er erkannte, dass jede Hilfe zu spät kam, rettete er sich in letzter Sekunde mit Hilfe der ausgestreckten Hand von Wilhelm Östringer, der gerade mit seinen Pferden von der Arbeit im Weinberg zurückgekommen war. Als Nachbar war es für ihn selbstverständlich, alles zu unternehmen, um die drei Verunglückten zu retten. Mit dem verunglückten Johann Kamuf auf der Schulter stürzte er auf halber Höhe in die Tiefe und blieb regungslos liegen.

In der Menschenansammlung war inzwischen Panik ausgebrochen, weil man sah, dass jede Hilfe zu spät kam. Trotzdem unternahm Nikolaus Kamuf, ein Bruder der beiden Verunglückten einen letzten Versuch, schwebte von oben angeseilt in die Tiefe, musste aber die Rettung abbrechen, nachdem er selbst verzweifelt nach Sauerstoff gerungen hatte. Inzwischen war auch Polizeidiener Franz Kamuf an der Unglücksstelle erschienen und verbot energisch weitere, lebensgefährliche Rettungsaktionen. Die aus Malsch und Östringen zu Hilfe gerufenen Ärzte konnten das Leben von Nikolaus Kamuf retten, für die Angehörigen der vier Verunglückten war zur traurigen Gewissheit geworden, dass für sie jede Hilfe zu spät kam.

Bereits am folgenden Tag berichteten die „Karlsruher Zeitung“, die „Badische Presse“ und der „Volksfreund“ über das tragische Geschehen, mit dem Unterschied, die Verunglückten seien gleichzeitig in den Schacht gestiegen, „um die Vertiefungsarbeiten vorzunehmen.“ Noch heute erzählt man in Rettigheim von diesem grauenhaften Unglück, welches das ganze Dorf in Schockstarre versetzte und für die kinderreichen Familien ein schwerer Schicksalsschlag war.

Autor

Rudi Kramer
Geiersbergstraße 7 
69242 Mühlhausen