General a.D. Harald Kujat am 15.11.2025:VIII

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General a.D. Harald Kujat: „Für ein Kriegsende und eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung“ |
Seit sich US-Präsident Trump bemüht, Russland und die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, wird hierzulande verstärkt vor einem russischen Angriff auf Westeuropa beziehungsweise auf die NATO gewarnt. Russland wird zunehmend als Herausforderung für die europäische Sicherheitsordnung und als Bedrohung dargestellt. Es heißt, Putin sei bereit, seine imperialistischen Ziele mit Gewalt durchzusetzen und werde nach der Ukraine weitere Länder angreifen – zunächst ein einzelnes NATO-Land, beispielsweise einen baltischen Staat oder Polen, um den Zusammenhalt des Bündnisses zu testen.
Diese Annahmen gehen davon aus, dass Russland bald über die erforderlichen militärischen Fähigkeiten verfügt und auch die Absicht zu einem Angriff habe. Denn erst durch die Fähigkeit und die Absicht zu einem Angriff entsteht eine Bedrohung. „Militärexperten“ wetteifern gar um den kürzesten Zeitraum, der den NATO-Staaten für die Verteidigungsvorbereitungen bleibt. Manche warnen, ein Angriff könnte 2030 erfolgen, andere sind sogar fest davon überzeugt, Russland könne bereits ein Jahr früher losschlagen. Und wieder andere behaupten, Russland „könnte NATO-Gebiet im kleineren Maßstab bereits morgen angreifen“.
Ein russischer Testangriff auf einen NATO-Staat wäre ein Sprung ins Ungewisse – mit unkalkulierbaren Konsequenzen bis zu einer nuklearen Eskalation. Denn ein Angriff auf einen NATO-Mitgliedstaat, in welchem Maßstab auch immer, wird als Angriff auf die gesamte NATO gewertet, So ist es im NATO-Vertrag geregelt. Deshalb würde ein Angriff auf einen NATO-Staat Russland in einen Krieg mit dem gesamten Bündnis stürzen. Wäre Russland wirklich bereit, ein existentielles Risiko für einen derartigen „Test“ in Kauf zu nehmen?
Wir erwarten von unseren Politikern Besonnenheit, De-Eskalationsbereitschaft und konstruktivem Krisenmanagement. In Fragen von Krieg und Frieden, in existenziellen Fragen für die Sicherheit unseres Landes und die Zukunft der deutschen Nation darf kein verantwortlicher Politiker mit Vermutungen und Annahmen argumentieren.
Putin hat darauf kürzlich auf der Waldai-Konferenz mit der Bemerkung reagiert, es sei Unsinn und schüre Hysterie zu behaupten, dass Russland einen Angriff auf die NATO plant, dass der Krieg mit den Russen praktisch vor der Tür steht. Diese Bemerkung zeigt, auch wenn man sie als Teil des Informationskrieges versteht, die wechselseitige und eskalierende Natur des Rüstungswettlaufs zwischen dem Westen und Russland.
Tatsächlich hat Russland seine Rüstungsproduktion 2024 gegenüber den Vorjahren erheblich gesteigert. Die Konversion ziviler Industrie in militärische Fertigung – insbesondere in der Metallverarbeitung, Fahrzeugproduktion und Elektronik – folgt dem Muster zentral gesteuerter Kriegswirtschaft. Erhebliche staatliche Investitionen flossen in den Ausbau der Munitionsfabriken und die Panzerproduktion. Aber jetzt hat die russische Regierung den Verteidigungshaushalt für 2026 zum ersten Mal seit Kriegsbeginn gesenkt, und zwar um 6,7 Prozent von 13,5 Prozent. Russland führt einen Angriffskrieg und niemand wird bestreiten, dass sich die Ukraine dagegen so gut wie möglich verteidigen können muss und dabei auch unterstützt werden sollte. Es ist aber auch richtig, dass unsere Politiker bisher weder die Kraft noch den Willen aufgebracht haben, die Ukraine durch konkrete Vorschläge für eine Friedensvereinbarung zu schützen. Vielmehr wird der Krieg in der Illusion, die Ukraine könnte einen militärischen Sieg erringen, ohne eine Friedensstrategie bis heute genährt und verlängert.
Es war die Doppelstrategie aus Verteidigungsfähigkeit und politischer Entspannung in den 70er und 80er Jahren, die Europa lange Zeit Sicherheit und Frieden brachte. Ein Rüstungswettlauf aufgrund einer ungesicherten Bedrohungsperzeption verschärft dagegen die ohnehin angespannte Lage, denn ein Rüstungswettlauf kennt keine Sieger, sondern ist der kürzeste Weg zum Krieg.
Ein Beispiel für diese Entwicklung ist Trumps Ankündigung, sein Land sei gezwungen, zu Atomwaffentests zurückzukehren. Nachdem Russland Ende Oktober erfolgreiche Tests des Torpedos „Poseidon“ mit einer Reichweite von mehr als 10.000 Kilometern und des Marschflugkörpers „Burewestnik“ mit einer praktisch unbegrenzten Reichweite bestätigt hatte. Beide Waffensysteme verfügen über einen nuklearen Antrieb durch einen Miniatur-Kernreaktor und können mit einem nuklearen Gefechtskopf ausgerüstet werden. Sie sollen das interkontinental-strategische Gleichgewicht mit den USA durch eine gesicherte nukleare Zweitschlagsfähigkeit Russlands garantieren. Dazu wurde insbesondere der Marschflugkörper „Burewestnik“ entwickelt, mit dem Russland das Ziel verfolgt, Raketenabwehrsysteme zu durchdringen.
Da die Russen ihre neuen Waffensysteme ohne atomare Gefechtsköpfe getestet haben, fehlt der Ankündigung des US-Präsidenten jedoch letztlich die Grundlage.
Käme es allerdings tatsächlich zu neuen Atomwaffentests, würde dies nach mehr als dreißig Jahren eine Erosion der internationalen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsordnung markieren und wäre in der Tat eine Rückkehr in finstere Zeiten. Denn seit dem letzten Nukleartest der USA 1992 gilt ein faktisches Testmoratorium der fünf Atommächte USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien. Zudem verbietet der „Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty“ (CTBT) von 1996 nukleare Tests. Allerdings ist dieser bisher nicht in Kraft getreten.
In jedem Fall ist die Diskussion über neue Atomwaffentests ein Beispiel dafür, an welche Abgründe die Welt ganz schnell geraten kann. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung dazu Stellung nimmt. Beispielsweise mit dem Vorschlag, Vereinbarungen zur gegenseitigen Inspektion von Nuklearsystemen zur Gewährleistung von Sicherheit und Zuverlässigkeit als vertrauensbildende Maßnahmen einzuleiten. Es muss sichergestellt werden, dass Atomtests unterirdisch, an der Oberfläche oder in der Luft weiterhin verboten bleiben. Andernfalls beginnt ein neues bedrohliches Wettrüsten.
Aber noch einmal zurück zu den behaupteten Angriffsabsichten Russlands. Die US-Nachrichtendienste stellten 2024 wie bereits zuvor in ihrer offiziellen Bedrohungsanalyse fest: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der NATO und wird seine asymmetrischen Aktivitäten unterhalb der Schwelle eines militärischen Konflikts weltweit fortsetzen.“ Die aktuelle Bedrohungsanalyse vom März 2025 bestätigt, dass Russland „versuchen (wird), unterhalb der Ebene eines bewaffneten Konflikts zu konkurrieren und Möglichkeiten zur Förderung russischer Interessen zu schaffen“. Die amerikanische Regierung ist zudem überzeugt, dass Russland für die Rekonstitution und den Aufwuchs der Landstreitkräfte bis zu zehn Jahre braucht. Dieser Zeitraum entspricht den Erfahrungen aus umfassenden Streitkräftereformen.
Warum also bewertet die deutsche Politik die strategischen Fähigkeiten und Absichten Russlands anders als die USA? Zumal die amerikanische Lagebeurteilung auch in die Bedrohungsanalyse der NATO einfließt. Die Umstellung auf Kriegswirtschaft und die erhöhte Produktion von konventionellen Waffensystemen während des Krieges belegen nicht, dass Russland die Fähigkeit anstrebt, in wenigen Jahren einen Eroberungskrieg gegen die NATO erfolgreich führen zu können und dazu auch die Absicht hat.
Das bedeutet jedoch nicht, dass ein großer europäischer Krieg völlig ausgeschlossen ist. Vielmehr ist das Risiko, das aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine entsteht, permanent gestiegen. Dazu hat auch das alternativlose finanzielle und materielle Engagement der NATO-Staaten beigetragen, vor allem die substanzielle Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte in der Operationsplanung, Aufklärung und Zielbekämpfung durch in Deutschland stationierte amerikanische Streitkräfte.
Auch deshalb hat der ehemalige Präsident Biden offenbar wiederholt geäußert, er beabsichtige, den Dritten Weltkrieg zu vermeiden, weil er das Risiko sah, dass die USA in den Krieg hineingezogen werden könnten.
Denn seit Beginn des Krieges hat die Ukraine immer wieder versucht, Situationen zu schaffen, die das erzwingen sollten, wie zum Beispiel die Angriffe auf Kernkraftwerke, auf das interkontinentalstrategische Frühwarnsystem oder die strategische Bomberflotte Russlands.
Der ehemalige polnische Präsident, Andrzej Duda, hat in einem Interview des polnischen Magazins „Do Rzeczy“ am 3. September sogar bestätigt, dass dies von Anfang an die Absicht der Ukraine war.
Diejenigen Politiker und Medien, die sich immer tiefer in eine absurde Kriegslogik verirren, sollten bedenken, dass ein Krieg zwischen Russland und NATO ein anderer als der Ukrainekrieg wäre, die gleiche Mischung aus Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs und einem Bewegungskrieg in der Art des Zweiten Weltkriegs. Russlands militärische Fähigkeiten zu regionaler und globaler Machtprojektion sind durch den Ukrainekrieg nicht beeinträchtigt worden. Die Luft- und Seestreitkräfte sind uneingeschränkt einsatzfähig und teilweise sogar wesentlich moderner und leistungsfähiger als zuvor. Weitreichende Präzisionsangriffssysteme, einschließlich verschiedener Hyperschallwaffen und Raketen mit unabhängig steuerbaren Gefechtsköpfen, stellen ein überlegenes Potential für eine Kriegführung über große Distanzen dar.
Aber die Stärke der amerikanischen Luft- und Seestreitkräfte mit der Fähigkeit, einen Mehrfrontenkrieg zu führen, verleiht der NATO eine enorme Schlagkraft. Konventionell ist die NATO Russland überlegen. Die USA könnten die europäischen Landmächte mit ihren Landstreitkräften allerdings erst nach einem längeren Vorlauf verstärken. Deshalb ist es nicht sicher, dass sie den Ausgang eines konventionellen europäischen Krieges, wie er gegenwärtig diskutiert wird, bereits nach kurzer Zeit entscheiden könnten. Wenn aber keine Seite über die Fähigkeit verfügt, einen schnellen Sieg zu erringen, besteht die Gefahr, dass eine Seite Nuklearwaffen einsetzt, um eine Entscheidung zu erzwingen oder eine existenziell gefährliche Niederlage abzuwenden.
Möglicherweise ist die gegenwärtige Kriegsrhetorik ja nicht nur der Versuch, das bisherige Narrativ zum Kriegsverlauf zu rechtfertigen, sondern auch zu begründen, dass wir mehr für unsere Verteidigung tun müssen. Denn dass die Bundeswehr über die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung verfügen muss, ist ihr Verfassungsauftrag. Aber 2011 wurde mit der „Neuausrichtung der Bundeswehr“ eine Reform durchgeführt, deren Ergebnis die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung und die Reduzierung der militärischen Fähigkeiten auf Auslandseinsätze bedeutete. Begründet wurde dies damit, dass ein konventioneller Angriff auf Europa und Deutschland nach wie vor unwahrscheinlich sei. Zugleich wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Angeblich wegen mangelnder Wehrgerechtigkeit. In Wahrheit wurde aus finanziellen Gründen immer weniger Wehrpflichtige eigezogen.
Links
- Vertragsentwurf von Istanbul 2022 in der NYT vom 15.6.2024
- From Zelenskyy's "surrender" to Putin's surrender: how the negotiations with Russia are going, Roman Romaniuk in der Ukrainska Pravda vom 5. Mai 2022
- Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit - UP sources, Iryna Balachuk und Roman Romaniuk in der Ukrainska Pravda vom 5. Mai 2022
Anmerkungen
Dieser Vortrag, gehalten am 15. November 2025 im Haus der Begegnung zu Heidelberg, erscheint auf Phenixxenia.org mit freundlicher Unterstützung des Autors und Referenten General a.D. Harald Kujat.
- Es gilt das gesprochene Wort -