Vor Sieben (von Ingrid Rosemarie Müller): Unterschied zwischen den Versionen

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== Vor Sieben ==
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;(von Ingrid Rosemarie Müller, 2014)
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Was soll ich erzählen?
Was soll ich erzählen?
 
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Als Älteste von uns sechsen bekam ich natürlich vieles mit, doch was davon ist so markant, dass man es Anderen mitteilt?
Als Älteste von uns sechsen bekam ich natürlich vieles mit, doch was davon ist so markant, dass man es Anderen mitteilt?



Aktuelle Version vom 21. Dezember 2025, 09:22 Uhr

Vor Sieben

(Ingrid Rosemarie Müller, 2014)

Was soll ich erzählen?

Auf dem Galgenberg

Als Älteste von uns sechsen bekam ich natürlich vieles mit, doch was davon ist so markant, dass man es Anderen mitteilt?

Ich wurde im August 1938 geboren, es war noch Frieden in unserem Land. Die Machtergreifung des Hitlerregimes war bereits 1933 erfolgt und der Krieg begann am 1. September 1939. Für mich war das damals noch nicht begreifbar. Aber als die Bombennächte kamen und ich – jedes Mal dies Mutti voraussagte – brach in unserer kleinen Welt grosse Unruhe aus.

Karl wurde geboren als ich 1 ½ Jahre alt war und von nun an stand mein kleiner Bruder im Mittelpunkt des Geschehens. Er hatte leider eine Fruchtwasservergiftung erlitten und man schickte Mutti mit dem ganzen Problem nach Hause – von Stuttgart-Berg. Doch hatte sie einen sehr guten Helfer an ihrer Seite – Dr. Schmoll, der seine homöopathische Praxis ganz in unserer Nähe hatte – wir wohnten damals in Stuttgart -Feuerbach, in der Scharfen-Schloss-Strasse 17 (die gibts heute noch), empfahl ihr, Karl nur mit Haferschleim zu ernähren. Gesagt – getan! Heute ein echter Prachtskerl, war alleine Haferschleim seine Rettung im Säuglingsalter.

Durch die Belastung mit Karl hatte Mutti natürlich wenig Zeit für mich.

Ich machte dann – unter anderem – z.B. einen Ausflug durch die ganze Stadt. Alleine – von zu Hause – bis zur Wernerstrasse zu Oma. Telefone – das gabs damals noch nicht für einfache Leute. Und so war die Aufregung gross.

Ab sofort musste ich mich abmelden, wenn mich wieder einmal die grosse Sehnsucht erfasste. Als ich den nächsten Ausflug zu Oma unternahm, war diese leider nicht zu Hause. Sie arbeitete damals noch bei Stumpf & Schüle in Feuerbach. Diese Firma war direkt jenseits der Bahnlinie. Freundliche Menschen halfen mir, Oma zu finden. So stieg ich über die Feuerleiter aussen am Fabrikgebäude bis zu Omas Arbeitsplatz.

Die schlug beide Hände über dem Kopf zusammen.

Doch über die Firma konnte sie sofort bei unserem Vermieter, der Firma Berger, anrufen lassen, dass ich heil angekommen sei.

So wuchs eine tiefe Beziehung zu unseren Grosseltern.

Und dann gabs da noch eine ganz besondere Zeit.

Nämlich dann, wenn es nach Mühlhausen an der Enz in den „Galgenberg“ ging. Das war jedes Mal für mich die ganz grosse Herausforderung und Begeisterung.

Mit der Bahn fuhren wir – Opa, Oma und ich – von Feuerbach nach Illingen. Das war und ist der nächstgelegene Bahnhof zu Mühlhausen. Genau gegenüber dem Bahnhof hatte Opas Bruder Franz sein Bauernhaus mit einer grossen Scheune. Darin konnte Opa seinen Leiterwagen abstellen. Also – mit diesem Leiterwagen – darauf alle Körbe und Taschen – und manchmal auch ich – gings dann weiter nach Mühlhausen, meistens entlang der Weinberge, die „Steig“ hinab und wieder hinauf zum Galgenberg. Dort befanden sich – neben Kirsch-, Apfel- und Birnenbäumen auch Stachelbeer- und Johannisbeersträucher, Erdbeeren und Küchenkräuter, und als Wichtigstes, der Eisenbahnwagen.

Ein Paradies!

Für mich das Grösste, was ich in meinen frühen Kindheitstagen erleben und geniessen durfte. Allein schon die Möglichkeit, dort zu schlafen, Wasser zu haben, natürlich Regenwasser! Opa hatte dafür eine Zisterne gebaut. – Toll! Oma sagte immer, das Schönste dabei ist, dass wir damit unsere Haare waschen konnten, die hinterher sehr viel schöner glänzten als mit normalem Leitungswasser.

Und dann die Kirschbäume!

Schon bald kletterte ich wie ein Eichhörnchen von Ast zu Ast. Immer voll Sorge von Oma und Opa betreut. Aber auf diesen Bäumen war ich zu Hause.

Und dann noch – unsere Terrasse...

Opa hatte sich einen Eisenbahnwagen mit „Peron“ ausgesucht. Das heisst, man ging erst die Treppen aussen hoch – natürlich überdacht – und von dort führte eine Schiebetüre ins Innere des Wagens. Und auf dieser Art Freisitz war ein Klapptisch befestigt. Daran haben wir uns das Essen schmecken lassen. Toll! - Mein erster erlebter Balkon.

Das ging so weiter, bis wir im November 1943 nach Mühlhausen „evakuiert“ wurden. Dann gabs kein Zigeunerleben mehr im Eisenbahnwagen für mich. Darüber war ich sehr traurig.

Und als dann böse Menschen beim Einmarsch der Alliierten 1945 „unseren“ Eisenbahnwagentraum angezündet haben, konnte man vor Entsetzen und Traurigkeit kaum noch atmen.

Vorbei! – Aber gewesen!

(Ingrid Müller, Juni 2014)